Jamal Khashoggi im SZ-Gespräch:"Viele Kritiker werden mundtot gemacht oder verschwinden"

Das sagte der bekannte saudi-arabische Journalist Khashoggi im Gespräch mit der SZ im vergangenen Juli. Vor einigen Wochen ist Jamal Khashoggi in Istanbul getötet worden.

Interview von Paul-Anton Krüger

Jamal Khashoggi gilt seit vielen Jahren als wichtiger Ansprechpartner, um Vorgänge in Saudi-Arabien zu verstehen. Der 59-jährige Journalist, der in seiner Karriere mehrmals Osama bin Laden interviewt hat, erfreute sich lange bester Zugänge zur Königsfamilie, über die kein westlicher Journalist verfügt. Er arbeitete als Berater für Prinz Turki bin Faisal, dem früheren Geheimdienstchef und Botschafter Saudi-Arabiens in den USA.

Dennoch verlief seine Karriere nicht immer geradlinig. Er trug dazu bei, die Zeitung al-Watan zu einer Stimme der Liberalen in Saudi-Arabien zu machen, wurde aber nach seiner ersten Ernennung zum Chefredakteur im Jahr 2003 bereits nach 52 Tagen wieder abgesetzt. Das Informationsministerium reagierte damit auf einen Kommentar, in dem er den massiven Einfluss des religiösen Establishments in Saudi-Arabien kritisiert hatte. Seine zweite Amtszeit begann im April 2007 und währte etwas länger als drei Jahre. Offiziell trat er zurück, um mehr Zeit für seine eigenen Projekte zu haben, allerdings gab es wegen seiner fortgesetzten Kritik an der Macht ultrakonservativer Kleriker massiven Druck auf ihn. Ein in Bahrain neu gegründeter Fernsehsender unter seiner Leitung, der sich im Besitz des Milliardärs Al-Waleed bin Talal befand, musste schon am ersten Tag seines Sendebetriebs wieder schließen, weil dort ein schiitischer Oppositioneller aus Bahrain zu Wort kam.

Das folgende Gespräch führte die Süddeutsche Zeitung mit Jamal Khashoggi telefonisch am 19. Juli dieses Jahres im Zuge einer Recherche über den Stand der Reformen in Saudi-Arabien. Er war gut gelaunt, engagiert, interessiert an der Entwicklung seines Landes, das er im Herbst 2017 aus Angst vor Verhaftung verlassen hatte. Er wagte es von Washington D.C. aus, Kronprinz Mohammed bin Salman und dessen Kurs weiter öffentlich zu kritisieren. Das machte ihn als Ansprechpartner noch wertvoller, weil viele seiner Kollegen oder gar Regierungsmitarbeiter in Saudi-Arabien sich inzwischen nicht mehr trauen, mit westlichen Journalisten zu sprechen und sich schon gar nicht zitieren lassen wollen.

Nach seinem Verschwinden im Zuge eines Besuchs im Istanbuler Konsulat des Königreichs vergangenen Dienstag dokumentiert die Süddeutsche Zeitung das 45-minütige Gespräch hier in voller Länge.

SZ: Jeder fragt sich, ist Kronprinz Mohammed bin Salman ein echter Reformer? Sie haben sich immer wieder kritisch geäußert. Was ist Ihre Sicht auf die Dinge?

Jamal Khashoggi: Wie viele andere Saudis habe ich gemischte Gefühle bei dem, was er tut. Während wir seine sozialen Reformen unterstützen, haben wir Sorgen wegen der wirtschaftlichen Reformen, von politischen gar nicht zu reden. Denn politische Reformen existieren nicht, sie sind nicht auf seiner Agenda, dafür hat er keine Toleranz, und er denkt nicht, dass wir, das saudi-arabische Volk, sie verdienen oder weit genug sind dafür. Er will uns schlicht und einfach alleine führen. Worüber ich als Saudi-Araber besorgt bin und wo ich die Bruchlinie sehe, ist die Wirtschaft, da wird es darauf ankommen.

Inwiefern?

Seine Absichten sind gut, dass wir die Wirtschaft diversifizieren müssen, uns vom Öl unabhängig machen. Aber wie sieht das in der Realität aus? Wenn Sie eine Liste der Wirtschaftsreformen in Saudi-Arabien aufstellen, werden Sie feststellen, dass es eine Liste von Versprechen und Visionen ist, aber nichts Reales. Und ich glaube, dass er den Druck zu spüren beginnt. Er hat hohe Erwartungen geweckt, und jetzt muss er den Menschen etwas liefern. Gerade erst wurde angekündigt, dass der staatliche Ölkonzern Saudi-Aramco einen großen Anteil von Sabic kaufen wird, dem größten saudischen Unternehmen für Petrochemie und Metallproduktion. Das ist eine Luftbuchung. Aramco, ein saudisches Unternehmen, kauft Sabic, ein saudisches Unternehmen, und das Ergebnis sind aufgeblasene Gewinne. Und ein Teil davon wird dann wieder im Budget verbucht.

Was heißt das für die anderen Reformen?

Das ist genau mein Punkt: In Ägypten durften Frauen schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts Auto fahren, Kinos gibt es seit 1909. Aber das hat Ägypten 2011 nicht vor der Wut der Menschen bewahrt. Menschen wollen ein gutes Leben, und das setzt ein gutes und stabiles Einkommen voraus.

Der Kronprinz hat eine sehr ambitionierte Vision 2030 verkündet und den Teilbörsengang von Aramco, der als Zeitenwende für die Wirtschaft Saudi-Arabiens gesehen wurde. Nun ist diese Privatisierung auf unbestimmte Zeit verschoben. Ist es zu riskant? Oder will man jetzt doch nicht die Transparenz, die ein Börsengang erzwingen würde? Warum macht er das?

Das ist Realpolitik. Oder Real-Ökonomie vielmehr. Sehen Sie: Er kündigt einen Plan an, und wenn er beginnt, ihn umzusetzen, dann trifft er auf die realen Gegebenheiten. Und die zeigen, dass das Risiko, Aramco aus den Händen des Staates zu geben und dem offen Markt zu überlassen, Investoren und womöglich anderen Regierungen, große Gefahren birgt für das System in Saudi-Arabien. Aber was mir noch wichtiger ist: Wo investieren wir das Geld, das wir durch einen solchen Verkauf ansammeln? Haben wir einen Markt in Saudi-Arabien, der für Investoren attraktiv ist, seien es einheimische oder ausländische?

Gilt das nur für seine Wirtschaftspolitik? Oder auch andere Bereiche?

Das ist genau das Gleiche, was ihm passiert ist, als er den libanesischen Premierminister Saad al-Hariri festgesetzt hat (Saad al-Hariri hatte im November 2017 unter bislang nicht geklärten Umständen von Saudi-Arabien aus seinen Rücktritt bekannt gegeben. Westliche Diplomaten gehen davon aus, dass er dort gegen seinen Willen festgehalten worden war; Anm. d. Red.). Der Zusammenprall mit der Realität kam, als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron ihn anrief und fragte, was er da eigentlich mache. Es klafft eine Lücke zwischen Visionen, zwischen virtueller Realität und der wirklichen Realität. Realpolitik trifft Saudi-Arabien in Jemen, sie trifft uns in der Auseinandersetzung mit Iran. In 2016 war die Ankunft von Donald Trump als US-Präsident für den Kronprinzen wie die Ankunft des Messias. Er sollte der Mann sein, der liefert, der alle Probleme für uns löst. Und natürlich hat sich gezeigt, dass er das nicht kann.

Warum passiert so etwas immer wieder? Ist der Kronprinz mit seinen 32 Jahren zu unerfahren, zu voreilig, zu verwegen?

Es ist all dies. Er nimmt zu viele seiner Verantwortlichkeiten in die eigenen Hände. Er lässt nicht zu, dass andere beitragen, helfen oder gar ihn kontrollieren.

Warum?

Er ist überzeugt von sich. Mohammed bin Salman glaubt, dass er alleine das Land führen kann, und dass das Volk nicht bereit ist für Demokratie oder andere Arten der politischen Teilhabe.

Er hat immer noch Unterstützung, gerade in der jungen Generation, die ihn als einen der ihren sieht, als einen, der Dinge aufbricht, die längst überfällig sind. Viele wollen nicht mehr von Männern jenseits der 75 regiert werden, die keinerlei Verständnis haben für die Lebenswelt der Mehrheit. Sie sind froh, dass sie nicht mehr nach Bahrain oder in die Emirate fahren müssen, um ins Kino gehen zu können.

Sie haben völlig recht, die Menschen genießen die soziale Öffnung, sie ist überfällig. Aber sie brauchen ein dauerhaftes, gutes Einkommen, um davon etwas zu haben, um ins Kino gehen zu können, ein Auto zu kaufen, eine Freundin zu haben. Wenn die Feierlaune vorbei ist, werden sie nach einem Gehalt fragen, nach Jobs. Was mich zurück zur Frage nach Demokratie führt. Was ich von vielen Kollegen in Saudi-Arabien höre, ist die Wiederholung des Mantras: "Wir sind nicht reif für Demokratie." Wenn wir Demokratie erlauben, wird sie an Stammesstrukturen und Religion orientiert sein. Und Mohammed bin Salman denkt genau so. Er glaubt nicht, dass die Menschen in Saudi-Arabien in der Lage sind, sich in die Transformation ihrer Gesellschaft einzubringen, und deswegen muss er sie alleine durchsetzen, das Land alleine führen.

Einmal anders gewendet: Kann nicht gerade in einer absoluten Monarchie, in einem Land wie Saudi-Arabien von oben verordneter Wandel funktionieren? Die eine Frage ist sicher, ob die Projekte, die sich damit verbinden, wohlüberlegt sind. Die andere ist, ob er die Gesellschaft mitnehmen kann. Letztlich versucht er ja den contrat social der saudischen Gesellschaft zu erneuern. Er sagt ja der jungen Generation, ihr werdet anders als eure Eltern noch arbeiten müssen. Ihr bekommt nicht mehr die Rundumversorgung, aber zum Ausgleich gibt es ein paar kleine Freiheiten.

Ja, natürlich ist das so. Deswegen wünschte ich mir, dass er sich stärker um die Reform der Arbeitsmarkstrukturen in Saudi-Arabien kümmert, das Land von der Abhängigkeit von ausländischen Arbeitern zu befreien und Saudis dazu zu bekommen, dass sie arbeiten. Ich habe 2013 ein Buch geschrieben, das auch in Saudi-Arabien erschienen ist. Es heißt: "Die Besetzung des saudischen Marktes". Ich könnte behaupten, dass die Regierung genau das tut, wozu ich in dem Buch aufgerufen habe.

Mehr als 700 000 ausländische Arbeiter haben Saudi-Arabien in den vergangenen 15 Monaten verlassen.

Ja, aber das reicht bei weitem nicht. Wir müssen so viele rauswerfen, dass die saudische Bevölkerung gezwungen ist, zu arbeiten und die saudische Wirtschaft gezwungen ist, Saudis zu beschäftigen. Das ist so in Deutschland oder in Skandinavien, überall. Die Menschen dort arbeiten. Aber ich sehe nicht, dass Mohammed bin Salman Zeit darauf verwendet. Er sieht die Lösung immer noch in diesen futuristischen, glorreichen Städten wie Neom, die ausländische Investitionen und Experten anziehen sollen. Er muss in den Stadtzentren von Riad und Dschidda anfangen, er muss mit den nicht privilegierten, ungebildeten Saudis anfangen, nicht mit der gebildeten Elite.

Da gibt es Parallelen mit Ägypten. Hier baut die Regierung auch lieber für Dutzende Milliarden eine neue Hauptstadt in der Wüste als die marode Infrastruktur von Kairo zu sanieren.

Ja, aber warum tun sie das? Kein vernünftiger Ökonom schlägt so etwas vor.

Es gibt halt Vorbilder, die erfolgreich sind, die sowohl in Ägypten als auch in Saudi-Arabien erheblichen Einfluss ausüben - die Vereinigten Arabischen Emirate vor allem, die sich ja auch damit brüsten.

Aber das ist ein großer Fehler, die Emirate sind ein Solitär in der Region, der sich nicht duplizieren lässt. Wenn es im Nahen Osten Bedarf für ein zweites Dubai gäbe, hätte Bahrain es werden können. Aber das lässt sich nicht kopieren. Um Immobilien zu bauen, braucht man Leute, die sich Immobilien kaufen können. Saudi-Arabien ist nicht vergleichbar mit den Stadtstaaten am Golf. Es ist ein großes Land mit 20 Millionen Bürgern, wir sind nicht Dubai.

Wenn wir noch mal auf die sozialen Reformen blicken: Mohammed bin Salman hat in Saudi-Arabien einiges durchgedrückt, was Konservativen nicht gefällt. Nicht nur dass Frauen Auto fahren dürfen, dass Kinos eröffnet haben und es bei Shows und Konzerten sogenannte Familienbereiche gibt, wo Frauen und Männer nicht getrennt sind, aber auch nicht immer kontrolliert wird, ob sie wirklich verwandt sind. Das heißt aber auch, dass er den Einfluss des religiösen Establishments beschneiden muss. Kann er das durchhalten und unter Kontrolle halten? Es sind ja auch Kleriker mit Millionen Followern auf Twitter mundtot gemacht worden, manche wurden sogar eingesperrt.

Es gibt eine gewisse Bedrohung, aber wenn, dann wird sich das in Gewalt manifestieren, also Terroranschläge entweder von al-Qaida oder der Terrormiliz Islamischer Staat. Aber sie werden nicht erleben, dass die Menschen in Massen auf die Straße gehen und ein Ende der sozialen Reformen verlangen. Der Kronprinz hat sehr viel Macht. Ich habe immer geglaubt, dass die Regierung wesentlich mächtiger ist als das religiöse Establishment. Und das religiöse Establishment in Saudi-Arabien ist nicht unabhängig, es untersteht der Regierung. An dieser Front sehe ich keine Herausforderung für ihn. Die sehe ich wenn dann durch Arbeitslosigkeit, von Saudis, die unzufrieden sind mit ihrer wirtschaftlichen Lage. Saudis werden nicht wegen der Religion auf die Straße gehen.

Aber es gibt schon sehr konservative Teile in der saudischen Gesellschaft, die einflussreich sind und nicht glücklich mit den Entwicklungen. Ein Regierungsmitglied hat mir vor einiger Zeit einmal gesagt, es sei wichtig, die gesamte Gesellschaft mitzunehmen und sie nicht zu überfordern mit dem Tempo von Reformen. Mohammed bin Salman scheint eher auf die heute 30-Jährigen zu zielen, die im Westen ausgebildet worden sind und nun das Land nach vorne bringen sollen.

Ich bin sicher, dass viele konservative Saudis unglücklich sind, aber sie sind nicht in einer Position, sich Mohammed bin Salman entgegenzustellen.

Der Kronprinz hat davon gesprochen, dass über Jahrzehnte eine falsche Interpretation des Islam vorgeherrscht habe und Saudi-Arabien zu einer gemäßigten Form des Islam zurückkehren werde. Aber das bedeutet im Umkehrschluss, dass er einige seiner Vorgänger kritisiert - was beispiellos ist in der jüngeren Geschichte des Landes.

Natürlich, weil der Islam in Saudi-Arabien sehr streng war und immer noch ist, aber die wichtigste Kraft dabei ist nicht sein Argument, sondern seine Macht. Er hat die Autorität. Er hat die Macht, Leute einzustellen und zu feuern und einzusperren. Er wird an einem gewissen Punkt einen Ausgleich bewerkstelligen müssen, und ich glaube, er denkt noch darüber nach. Aber die schnelle Lösung der wirtschaftlichen Probleme hat Priorität. Die Frage der Religion wird Saudi-Arabien immer begleiten, aber sie wird nur im Zuge einer Wirtschaftskrise entscheidendes Gewicht gewinnen. Wenn er ein wirtschaftliches Wunder vollbringt, tritt alles andere in den Hintergrund. Die Menschen müssen spüren, dass sie mehr Einkommen haben, gute Wohnungen und so weiter. Dann wird Mohammed bin Salman Saudi-Arabien für die nächsten 50 Jahre führen.

"Arbeitslosigkeit ist ein sehr ernstes Problem für Saudi-Arabien"

Bei meinem jüngsten Besuch wurde ich von der Regierung nach Diriyah eingeladen, einst der Sitz der Familie al-Saud, heute ein Freilichtmuseum gegenüber der Moschee von Mohammed bin Abdul-Wahhab. Das wurde damals aufwändig restauriert. Ist das ein Versuch, ein zweites Narrativ für Saudi-Arabien zu etablieren, das nationalistisch ist, nicht religiös?

Ja, das wird mit großem Aufwand betrieben, sie propagieren eine gewisse Form einer nationalistischen saudischen Identität, die wiederum viele Saudis aufbringt, die sich ihren Stämmen verbunden sehen. Das können Sie in den sozialen Medien gut verfolgen. Es ist ein problematisches Narrativ.

Sie betonen ja immer wieder, dass die wirtschaftlichen Fragen das Entscheidende sind. Was muss Mohammed bin Salman denn noch tun, außer Arbeitsplätze zu schaffen und Saudis dazu zu bringen, dass sie auch in der Privatwirtschaft arbeiten für weniger Geld und Prestige?

Das Wichtigste ist es, die Arbeitsethik zu ändern, Saudis zum Arbeiten zu bringen. Was immer dazu beiträgt, Bildung, Anreize, andere Arbeitszeiten, das Lohnniveau. Da muss die Priorität liegen, und es könnte ein Jahrzehnt dauern, das zu schaffen, wenn er sich darauf konzentrieren würde. Das ist social engineering, und das braucht Zeit. Und es könnte eine gewisse Form von Demokratie erfordern, auf der Ebene lokaler Räte. Und das mag der Kronprinz nicht. Aber ich sehe nicht, dass er das angeht. Social engineering beschränkt sich für ihn auf die sozialen Reformen: eine saudische Familie, die ins Kino geht. Das ist gut, aber künstlich. Erfolg hätte das social engineering, wenn ein Saudi in einer Bäckerei arbeiten würde oder zumindest als Unternehmer eine betreiben würde. Saudi-Arabien ohne ausländische Arbeiter, das wird echten Wandel bringen.

Was glauben Sie, wie viel Zeit ihm dafür bleibt? Ein Jahrzehnt? Kann sich Saudi-Arabien das leisten?

Wenn wir ein nationales Projekt beginnen, wird das den Ärger vieler Saudis absorbieren, wenn sie sehen, dass sie Jobs bekommen. Aber laut einigen Prognosen wird die Arbeitslosigkeit in Saudi-Arabien in fünf Jahren rapide zunehmen. Arbeitslosigkeit ist ein sehr ernstes Problem für Saudi-Arabien, und die Quote liegt weit höher als die offiziellen zwölf Prozent. Wie viel gefälschte Beschäftigung haben wir, wo Firmen Saudis nur auf dem Papier beschäftigen und Lohn zahlen dafür, dass sie die offiziellen Vorgaben schaffen? Mir ist nicht geläufig, dass es ein anderes Land auf der Welt gibt, das ein vergleichbares Problem hat. Ich kann das nicht genau beziffern, aber ich würde schätzen, dass wir tatsächlich in der Gegend von 20 Prozent liegen.

Der Internationale Währungsfonds hat jüngst einen Bericht über Arbeitslosigkeit unter Frauen in der arabischen Welt veröffentlich. Da liegt Saudi-Arabien auf einem der letzten Plätze. Der Kronprinz hat offen gesagt, dass Frauen künftig deutlich mehr arbeiten müssen - das könnte ein guter Indikator sein, ob die Reformen funktionieren, oder nicht?

Das findet statt. Tatsächlich arbeiten heute mehr saudische Frauen und mehr Saudis allgemein als je zuvor, in allen Branchen. Frauen arbeiten in Supermärkten überall. Wenn Mohammed bin Salman als Held erscheinen will, dann ist das genau der Platz. Das könnte sein historisches Erbe sein, die saudische Gesellschaft neu zu strukturieren. Ich halte nichts von seiner Idee, eine Zukunftsstadt zu bauen, aber wenn wir unsere Lebensweise in unseren Heimatstädten ändern, in Riad und Dschidda, in Medina und Mekka, das wäre ein riesiger Erfolg. Ich würde mich freuen, wenn er in unterprivilegierte Viertel in Mekka gehen würde. Wir haben Glitzerfassaden in Riad, aber ich kann ihnen auch Viertel nennen, wo sie glauben würden, in einem Land der Dritten Welt zu sein. Er muss dort selbst hingehen. Wenn ich sein Berater wäre, würde ich ihn bitten, dorthin zu gehen und das Land von dort aus zu verändern. Aber er kommt mir mehr vor wie ein Entrepreneur, der Geschäfte macht, als jemand, der ein Land führt.

Sie haben davon gesprochen, dass es keinerlei politische Reformen gebe, aber es scheint ja auch so zu sein, dass die Repression härter wird. Würden Sie dem zustimmen?

Ja, der Kronprinz geht härter als je zuvor gegen Kritiker vor. Zum ersten Mal verlässt eine wachsende Zahl von Saudis das Land, die ich die stille saudi-arabische Opposition nenne. Sie verlassen das Land, nur um in Sicherheit leben zu können. Viele Kritiker werden mundtot gemacht oder verschwinden. Niemand wagt es mehr, offen zu sprechen. Wenn ich in Saudi-Arabien wäre, würden wir dieses Telefonat jetzt nicht führen, nicht einmal auf privater Basis. Das hat es vor zwei oder drei Jahren noch nicht gegeben.

Was ist der Grund dafür? Der Kronprinz hat doch seine Macht gefestigt, institutionell hat er die Entscheidungsprozesse monopolisiert. Fühlt er sich noch immer unsicher?

Ich weiß es nicht. Vielleicht denkt er, er müsse das tun, um freie Hand zu haben. Aber es gibt weder eine Opposition in Saudi-Arabien noch sonst jemanden, der seine Machtposition gefährden könnte. Ich habe keine schlüssige Erklärung dafür, außer dass er alles kontrollieren will.

Es gibt immer wieder Gerüchte - von denen auch Diplomaten sagen, sie könnten den Wahrheitsgehalt kaum einschätzen -, dass es aus Teilen der königlichen Familie selbst Widerstand gegen einige seiner Projekte gebe. Ist das vielleicht der Hintergrund?

Das glaube ich nicht. Vielleicht hat manch einer Vorbehalte, die er vielleicht beim Dinner mit Ihnen teilen würde, aber mehr als das nicht. Niemand kann eine Opposition gegen das organisieren, was er tut, einschließlich Mitgliedern der Königsfamilie. Sie können sich nicht frei treffen oder diskutieren, sie können keine Allianzen bilden, sie sind genauso verängstigt wie jeder normale Saudi.

Welche Rolle spielen die als Kampf gegen die Korruption präsentierten Verhaftungen im Ritz-Carlton in Riad dabei? Ging es darum, Geld für die klamme Staatskasse einzunehmen? Oder war es ein ernstgemeinter Vorstoß gegen die Korruption?

Beides, und zudem schaffte er eine neue Händlerklasse in Saudi-Arabien. Ich weiß gar nicht, ob das seine Intention ist. Natürlich wäre es problematisch, die Händler-Klasse, die ein Jahrhundert lang in Saudi-Arabien gearbeitet hat, zu zerstören und sie durch eine neue zu ersetzen. Das ist wieder so eine seiner hastigen, impulsiven Entscheidungen. Es ist klar, dass sich diese Klasse der Geschäftsleute verändert, entwickelt, dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen, und ich weiß nicht, ob er sich dessen bewusst ist oder ob er einen Plan dafür hat. Aber er hat auf jeden Fall diese Schicht der Geschäftsleute und Händler durchgeschüttelt, und die sind verängstigt, haben Vertrauen verloren. Und das wird massive Auswirkungen auf Saudi-Arabien haben. Es geht dabei um weit mehr als den Kampf gegen Korruption und die Kontrolle über die Macht.

Wie meinen Sie das?

Sehen Sie, als Heinrich der VIII. die Kirche von England von Rom löste, um sich scheiden lassen zu können, veränderte er die Geschichte Englands für immer. Mohammed bin Salman verändert in ähnlicher Weise die Geschichte Saudi-Arabiens für immer, und wahrscheinlich hat er keinen vollständigen Entwurf oder Plan dafür.

Das heißt, das beruht in großen Teilen auf Improvisation?

Das kann sein, ich glaube wirklich nicht, dass er einen großen Masterplan dafür hat. Ich weiß nicht, ob er eine neue Klasse von Geschäftsleuten und Händlern schaffen will. Ist das gut oder schlecht? Hat er alle Folgen bedacht, auch die möglicherweise nicht intendierten?

Gilt das auch für andere Politikbereiche? Mohammed bin Salman hat ja als Verteidigungsminister begonnen, unter ihm hat Saudi-Arabien in Jemen interveniert. Die Außenpolitik des Königreichs hat sich drastisch gewandelt im Vergleich zu den Jahrzehnten vor seinem Aufstieg. War das von innenpolitischen Erwägungen getrieben, um seine Popularität zu steigern, sich als Verteidigungsminister zu beweisen? Oder hat die vorhergehende saudische Führung nicht erkannt, wie ernst die Lage in der Region in den zehn Jahren zuvor geworden ist?

Ich glaube, Saudi-Arabien, Mohammed bin Salman eingeschlossen und auch die Öffentlichkeit, ist sehr besorgt über den wachsenden Einfluss Irans in der Region. Ich und die meisten Saudis teilen dieses Gefühl mit ihm. Ich glaube, das ist der wesentliche Antrieb - Iran entgegenzutreten und zu zeigen, dass Saudi-Arabien durchsetzungsfähig ist. Was aber die Aufgabe erschwert: Er fügte der Konfrontation mit Iran eine weitere Konfrontation hinzu. Er will Iran in Jemen unter Kontrolle bringen, indem er die Huthis besiegt. Aber zugleich will er verhindern, dass die Kräfte des Arabischen Frühlings sich durchsetzen. Das verkompliziert die Agenda und hat dazu geführt, dass der Krieg jetzt drei Jahre andauert. Das lässt sich auf andere Konflikte übertragen: Er will Iran in Syrien konfrontieren, aber nicht zulassen, dass der Arabische Frühling sich dort durchsetzt.

Ist das auch der Kern der Krise mit Katar?

Ja, Katar verärgert Saudi-Arabien, indem es den Befürwortern des Arabischen Frühlings Luft zum Atmen gibt. Dieses Fenster für sie will er schließen.

Geht in der Katar-Frage die Initiative von Saudi-Arabien aus oder eher von den Vereinigten Arabischen Emiraten, die sich ja besonders hartleibig zeigen?

Von beiden gleichermaßen. Sie führen einen Kreuzzug gegen den politischen Islam und den Arabischen Frühling, und sie wollen beides stoppen.

Aber die saudische Position gegenüber der Muslimbruderschaft war nuancierter, vor allem mit Blick auf Jemen, als die Haltung Abu Dhabis.

Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate stimmen völlig überein in der Notwendigkeit, der Muslimbruderschaft entgegenzutreten. Sie wollen die Muslimbrüder daran hindern, sich irgendwo eine Machtbasis zu verschaffen, vor allem nicht in Jemen.

Weil es letztlich den Bestand der Monarchien gefährden würde?

Sie sehen das so, sie betrachten die Muslimbrüder als existenzielle Bedrohung.

Herr Khashoggi, vielen Dank für das Gespräch.

Zur SZ-Startseite
Dschidda, Saudi-Arabien

Saudi-Arabien
:Das Morgenland will Touristen empfangen

Wenn die Ölquellen versiegen, sollen Touristeneinnahmen sprudeln. Für die saudische Gesellschaft wird das zur Gratwanderung zwischen religiösen Vorschriften und Gewinnstreben. Ein Spaziergang mit der ersten Reiseführerin von Dschidda.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: