SPD und Union:Vorrechte der Volksparteien sind verloren gegangen

Landtagswahl Hessen - Wahlplakate

Die Masse der alten Volksparteien hat abgenommen, die Macht auch: Wahlplakate der Spitzenkandidaten von CDU und SPD bei den anstehenden Landtagswahlen in Hessen.

(Foto: dpa)

Die großen Parteien werden kleiner, die kleinen größer. Das ist nicht der Untergang der Demokratie, aber es verlangt von SPD und Union, alte Bequemlichkeiten abzulegen.

Kommentar von Heribert Prantl

Im Wort "Volkspartei" stecken Größe, Macht, Weite und Allzuständigkeit, es steckt aber auch etwas Heimeliges darin, etwas Schützendes. Es ist ein Wort wie von Elias Canetti für sein Hauptwerk erfunden, das von "Masse und Macht" handelt. Canettis Werk erschien im Jahr 1960; diese Zeit, die Sechziger- und die Siebziger jahre, waren auch die großen Jahre der CDU/CSU und der SPD als Volksparteien. Volkspartei - das war Masse, Macht und Dünkel. Das passte in die Wirtschaftswunderzeit, in der das Wort geprägt wurde. Aber diese Zeit ist vorbei.

Die Masse hat abgenommen, die Macht auch - der Dünkel noch nicht. Die alten Volksparteien, die CSU am stärksten, klammern sich an das Wort Volkspartei, weil es für sie ein Adelstitel ist, mit dem man sich per se von den anderen, bisher kleineren Parteien unterscheidet.

Aber der Adel ist abgeschafft. Und selbst eine Partei wie die CSU, die noch leidlich stark dasteht, ist verglichen mit früher nur noch halbstark. Warum? Das hat nicht nur mit den aktuellen politischen Fehlern zu tun. Es ist so: Das Volk der Wirtschaftswunderzeit, aus der die alten Volksparteien stammen, gibt es nicht mehr. Das Wahlvolk ist ein anderes Volk geworden, es ist ein Viel-Völkchen-Volk, verglichen mit damals.

Zahl der Gemeinsamkeiten nimmt ab

Die alten Organisationsloyalitäten, die alten Prägungen durch Gewerkschaften und Kirche, sind bekanntlich viel schwächer geworden; die gemeinsamen Erfahrungen in der Arbeitswelt sind nicht mehr so dominant wie früher. Selbst die relativ Armen haben nicht mehr so viel gemeinsam wie früher: Den wegrationalisierten Facharbeiter, den arbeitslosen Akademiker und die alleinerziehende Mutter, die den Sprung ins Berufsleben nicht mehr schafft, verbindet nicht viel - nur Hartz IV. Die Klammern gemeinsamer Erfahrungen sind kleiner geworden in den vergangenen Jahrzehnten.

Die stärkste Klammer, die stärkste Verbindung ist derzeit diejenige, die vom ökologischen Bewusstsein hergestellt wird. Die Grünen werden heute von einem Zeitgeist nach oben getragen, den sie einst selber mit hergestellt haben; sie ernten die Frucht der frühen Jahre. Und die AfD erntet die Früchte der Sündenbock-Politik gegen Flüchtlinge, auf die sich die alten Volksparteien seit und mit der Änderung des Asylgrundrechts geeinigt hatten. Aber die neuen Klammern und die neuen Verbindungen sind nicht mehr so groß und so umfassend, wie es die alten waren.

Der Erkenntniswert, der im Wort Volkspartei steckte, hat sich aufgelöst. Heutzutage ist jede Partei, die ausreichend Zuspruch findet, eine Volkspartei - eine Volkspartei neuen Typus. Man sollte den Begriff Volkspartei streichen; es ist besser, ihn zu einem historischen Begriff zu erklären, als durch seinen eifrigen Gebrauch die alten Volksparteien alt ausschauen zu lassen.

Das Parteiensystem der alten Volksparteien sah aus wie eine klassische deutsche Kleinfamilie

Bei Elias Canetti ist das wichtigste deutsche Massensymbol der Wald; und so wie die Wälder die Natur prägen, prägten die großen Parteien in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik die politische Landschaft. CDU/CSU und SPD waren so ähnlich und so verschieden wie Laub- und Nadelwälder. Es ist eine bemerkenswerte Koinzidenz, dass der Debatte über das Waldsterben, welche die wichtigste umweltpolitische Debatte der Achtzigerjahre war und die zum Aufstieg der Grünen wesentlich beitrug, das Räsonieren und das Debattieren über das Sterben der Volksparteien folgten: Die Beschreibung der alten Volksparteien gemahnt bisweilen an die alten Bilder von den Baumgerippen; den Wäldern hatte der saure Regen den Garaus gemacht. Für die alten Volksparteien sind seit einiger Zeit die Wahlen noch schlimmer, als es seinerzeit der saure Regen für die Wälder war.

Wachsen neue Volksparteien? Sind die Grünen (die soeben in Bayern an die zwanzig Prozent herangerückt sind und die diese zwanzig Prozent demnächst in Hessen wohl übersteigen werden) eine neue Volkspartei? Ist die AfD womöglich auch eine neue Volkspartei, weil sie schneller gewachsen ist als jede andere neue Partei bisher? Wenn man der alten SPD, ihrer Verluste wegen, den Volkspartei-Charakter abspricht, muss man die Maßzahl benennen, die eine Volkspartei nicht unterschreiten darf: Sind das 30, 25 oder zwanzig Prozent? Solches Linienziehen bringt nichts. Es ist schlicht so: Die großen Parteien werden kleiner, die bisher kleineren größer. Das ist nicht der Untergang der Demokratie; das verlangt aber, Gewohnheiten und Bequemlichkeiten abzulegen.

Parteiensystem wie klassische deutsche Kleinfamilie

Das Parteiensystem, dem die alten Volksparteien entstammen, sah so ähnlich aus wie eine klassische deutsche Kleinfamilie. CDU/CSU und SPD waren Vater und Mutter, sie waren für das Wohl der Familie verantwortlich. Und die Kinder (also die FDP, später auch die Grünen und die Linken) kümmerten sich um ihre Hobbys und ihre Freunde. Seitdem die Großen kleiner und die Kleinen größer werden, stimmt dieses Bild nicht mehr. Die kleineren Parteien, die jetzt mittlere Parteien geworden sind, vertreten keine engen Klientelinteressen mehr (jedenfalls kaum stärker als die bisher großen Parteien). Ihre Programme sind so weitgefächert wie die der Union und der SPD, und sie finden Wähler quer durch alle Schichten. Diese Wähler sind anspruchsvoller als früher, unsteter, schmetterlingshafter - im Ergebnis aber auch emanzipierter. Man muss deswegen nicht verzweifeln. Wenn die alten Volksparteien kapiert und akzeptiert haben, dass es ihre alten Vorrechte nicht mehr gibt, dass sie sich also darauf nicht ausruhen können, dann wird es ihnen wieder besser gehen.

Das Schrumpfen der alten Volksparteien ist kein politisches Baumsterben. Der Wald stirbt nicht, er verändert sich nur. Es ist ein Mischwald gewachsen. In der Natur ist der Mischwald ohnehin der schönere Wald. Und in der Forstwirtschaft ist er wichtig, weil er mit Risiken und Gefahren, selbst mit dem Klimawandel, besser fertig wird als die Monokulturen. Womöglich gilt das auch in der Politik.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusLandtagswahl in Bayern
:Haidhausen, die grüne Mitte Münchens

Das frühere Arbeiterviertel ist immer schöner geworden. Heute ist es hip und teuer - und: nirgendwo holten die Grünen mehr Stimmen. Erkundungen in einem widersprüchlichen Milieu.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: