Zum Tode des Malers Wesselmann:Der Mensch als Benutzeroberfläche

Der Popkünstler Tom Wesselmann, Erfinder der "Great American Nudes" und Schöpfer schreiend bunter Fleisch-Stilleben, ist tot.

HOLGER LIEBS

Sunkist-Orange, Kleenex-Schachtel, Zigarette von Marlboro oder Lucky Strike, es ist einerlei.

Das strahlende Weiß der perfekten Zahnreihen zwischen den natürlich à la Playboy-Mieze erotisch geschürzten Lippen jedenfalls kann nur von Kukident stammen, beim Lippenstift wird's schon schwieriger, eine Marke zu assoziieren.

Man schreibt das Jahr 1967, als Tom Wesselmann seine "Great American Nude #98" als überdimensionales, eindeutige Signale aussendendes Stillleben mit erigierter Brustwarze und klischiertem "Ja-ich-bin-erregt"-Lächeln auf fünf hintereinander gestaffelte Leinwände malt.

Wobei hier von "Gemälde" eigentlich keine Rede mehr sein kann, denn diese schreiend bunte Markenparade, diese Reklamebenutzeroberfläche mit Geschlechtsmerkmalen kommt nicht mehr als traditionelles Bildgeviert daher, sondern nimmt genau die Form seiner Gegenstände an (faltenfrei praller Nippel, runde Orange, eckige Hygienetuchschachtel und so weiter).

So dass man also davor steht und wie auf eine reale Bettszene blickt - auf eine steril-plakative, Details einfach ausblendende Bettszene allerdings, wie sie Hugh Hefner und Vance Packard, der Autor des Werbepamphlets "Die geheimen Verführer" (1957), gemeinsam erfunden haben könnten.

Denn Wesselmanns blond(iert)e Nackte nennt weder Augen noch Nase ihr eigen - die Lippen und (eine einzelne) Warze reichen als optische Schlüsselreize schon aus. "Ein Gesicht", so Wesselmann, "gibt dem Akt persönliche Züge und verändert den gesamten Ausdruck des Werks, macht es zu einer Art Porträt-Akt, und das gefiel mir nicht.

Also verzichtete ich von vorneherein auf Gesichtszüge." So dass dieser leicht hysterische Appeal des Genusses ohne Reue noch härter, kälter, objekthafter rüberkommt. Diese Nackten können nicht zurückschauen wie noch Manets "Olympia", die ein Jahrhundert zuvor entstanden war - sie bieten sich nur feil, sonst nichts.

"Standing Paintings" nannte Wesselmann die sexuellen Attrappen seiner "Great American Nudes", die Ende der sechziger Jahre entstanden; die "Große Nackte Nr. 98" hängt heute, dem Pop-Art-Sammler Peter Ludwig sei Dank, im Kölner Museum Ludwig.

Heute, da kaum noch Produkte beworben werden, sondern eher ein Glück versprechendes, diffuses Lebensgefühl, das mit ihnen assoziiert werden soll, sehen wir Wesselmanns "Great American Nudes" weniger als die pornografischen Provokationen, die sie in den Sechzigern zweifellos noch waren, sondern als formale Relikte einer kulissengläubigen, vom industriellen und sexuellen Fortschritt gleichermaßen besessenen und abgestoßenen Zeit, in der bigger than life und blow-up noch als Werte an sich galten.

Seit die Pop Art mit den großen Sechs, also mit Warhol, Lichtenstein, Johns, Rauschenberg und Wesselmann sich Anfang der Sechziger Bahn brach - '61 hatte Wesselmann in New York seine erste Einzelausstellung -, seit dieser Zeit arbeiten sich die Historiker an der Frage ab, ob diese sehr lauten Verdopplungen der sichtbaren Welt mit ihren antisubjektiven Zügen nun als Satiren oder als Verherrlichungen dieser Welt zu gelten hätten.

Kritik oder Affirmation? Mit dieser Frage kommt man bei Wesselmann nicht sehr weit. Interessanter ist vielleicht die Tatsache, dass Wesselmann sich 1961 schon vom Abstrakten Expressionismus der "New York School" und ihrem Dogma der Abstraktion gelöst hatte, weil er sich in ihrer Mitte so naiv wie "Rousseau unter den Kubisten" vorgekommen war.

Vor allem aber erfuhr 1961 auch Henri Matisse im MoMA seine letzte große Würdigung durch die Präsentation später Arbeiten.

Matisse, dieser große Dekorative des 20. Jahrhunderts, mit seinen klassischen Bildgattungen des Interieurs, des Akts, der Stillleben und Blumenbouquets, wurde zum kunsthistorischen blueprint für Wesselmann, der wie sein Vorbild bald zu collagieren begann, mit damals noch gezeichneten Akten, die sich wie pinkfarbene Arabesken in die Interieurs hineinschreiben, und schließlich die beworbene Waren-Wirklichkeit - fotografierte Reklamefundsachen oder gleich the real thing - in diese Traumwelten hineinströmen ließ: eine prallbunte Auslegeware von Campari, Pall Mall, Budweiser über Royal Crown Cola, Hellmann's Real Mayonnaise bis hin zu echten, funktionierenden Leuchtröhren, Uhren, Klimaanlagen (der Marke "Frigid") und Fernsehern. "Bilder, die an der Wand explodieren", das war es, was Wesselmann wollte.

"Still Life # 28" - Wesselmann nummerierte seine Werke wie im Warenkatalog, anstatt sie durch narrative Bildtitel zu überhöhen - zeigte neben einem selbstverständlich laufenden TV-Gerät das Porträt Lincolns: Das wurde gespenstisch, als noch im Entstehungsjahr, 1963, direkt neben dem Urur-Präsidenten die Ermordung Kennedys über besagten Bildschirm flimmerte. So weit, so amerikanisch - "Old Europe" kam bei Wesselmann thematisch nur in seinem erfolgreichsten Exportgut, dem VW-Käfer, vor, dieser aber lebensgroß, den romantischen Landschaftsprospekt versperrend.

Ein Werbebild, einmal mehr.

Und dann waren da natürlich die Genres der europäischen Bildtradition, aufgeblasen und gesäubert durch das Reservoir der Bilderindustrie der amerikanischen Wohlstandsgesellschaft. Allen voran der Akt, dieser Fetisch, zeichenhaft verkürzt, zerstückelt und zum Einzelteil reduziert - eine Bildgattung also, die schon bei Courbet die Lizenz zum Symbolischen nicht mehr benötigte, die nun aber zum altersfreien Pin-up klischiert wurde, etwa in den "Seascapes" (Frau vor Ozean), den Close-ups (mit der Negativform des Busens als Bildrand) oder in den "Bathtub Collages" mit ihren immergleichen Hygieneartikeln, Handtüchern und blanken Busen.

Doch auch hier tauchen wiederum andere Bildgattungen auf, etwa das trompe l'oeil, die Augentäuschung, mit gemalten und echten Handtüchern, Handtuchhaltern, Türen, ja Klosettdeckeln. Fetisch Frau: Wesselmann kannte seinen Freud, er saß, da er nun mal Maler werden wollte, auf der Couch, unterzog sich der Psychoanalyse.

1980 war er fast Fünfzig. Seine produktivste Phase lag damals noch vor ihm; mit flüchtigen (Akt-)Skizzen, die dann mittels Laserstrahl auf Metallplatten projiziert wurden, welche schließlich ausgestanzt wurden. Aber 1980 gab es vor allem immer noch kein grundlegendes Werk über ihn. Da schrieb er es einfach selbst, unter dem schönen Pseudonym "Slim Stealingworth".

Er wurde 1931 in Cincinatti/Ohio geboren. An der Heimatfront des Koreakrieges war ihm sterbenslangweilig, da begann er, Cartoons zu zeichnen. Er verehrte Willem de Kooning und Hans Hofmann; später dann der Bruch mit der abstrakten Kunst. 1956 Umzug nach New York, 1957 lernt er Claire Selley kennen, die später seine Frau und wichtigstes Modell wurde. Ja, diese Akte beruhen tatsächlich auf realen Vorbildern.

Am vergangenen Freitag ist Tom Wesselmann nach Komplikationen während einer Herzoperation in Manhattan gestorben. Er wurde 73 Jahre alt.

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