Nicht nur Stahl:Datenbrille statt Zollstock

Thyssenkrupp digitalisiert das Geschäft mit Treppenliften. Damit zeigen die Essener, wie innovativ ihre Aufzugssparte ist. Sie steht im Mittelpunkt der Überlegungen, den Konzern in zwei Firmen aufzuteilen.

Von Benedikt Müller, Essen

Wer bei Thyssenkrupp einen Treppenlift bestellt, der braucht Geduld: Mindestens 40 Tage dauert es, bis der bestellte, kleine Fahrstuhl in den eigenen vier Wänden eingebaut wird. Denn nachdem der Außendienstler Maß genommen hat, stellen bislang andere Beschäftigte ein 3-D-Modell zusammen, schicken im Zweifelsfall einen Mitarbeiter zum Nachmessen vorbei, bis die Produktion in der Fabrik anlaufen kann. Und wehe, jemand gibt aus Versehen eine falsche Zahl ein. Dann kann die Lieferzeit auch 70 Tage betragen.

Jetzt will Thyssenkrupp das Geschäft mit Treppenliften digitalisieren und beschleunigen: Statt Zollstock und Kamera sind Außendienstler des Ruhrkonzerns fortan mit einer Datenbrille von Microsoft unterwegs. Mit ihr messen sie Treppe und Handlauf ab, der Computer erstellt ein digitales Modell. Wenn der Kunde selbst die Mixed-Reality-Brille aufsetzt, sieht er den virtuellen Treppenlift in seinem realen Treppenhaus vor sich. Er wählt Details wie die Farbe des Polsters. Dann kann der Verkäufer den Preis berechnen und den Auftrag an die Fabrik schicken. 14 Tage später werde der Treppenlift eingebaut, stellt Thyssenkrupp in Aussicht.

Noch ein Investor

Es waren vor allem kritische Investoren, die in den vergangenen Monaten öffentlich auf einen radikalen Umbau von Thyssenkrupp gedrängt haben. Nun hat der Traditionskonzern einen weiteren Großaktionär an Bord: Die Investmentfirma Harris Associates halte neuerdings 3,08 Prozent der Anteile, teilt Thyssenkrupp mit. Das Fondshaus aus Chicago, gegründet im Jahr 1976, verwaltet ein Vermögen von gut 120 Milliarden Euro weltweit und ist etwa auch an der Schweizer Bank Credit Suisse beteiligt. Harris gilt als Investor, der nicht vor Kritik an seinen Beteiligungen zurückschreckt. An derlei Großaktionäre hat man sich bei Thyssenkrupp schon gewöhnt: So hält die schwedische Investmentfirma Cevian etwa 18 Prozent der Anteile an dem Ruhrkonzern. Auch der US-Fonds Elliott besitzt nach eigenen Angaben ein größeres Aktienpaket, hat die Meldeschwelle von drei Prozent bislang aber nicht überschritten. Größter Anteilseigner von Thyssenkrupp ist traditionell die Krupp-Stiftung, die etwa 21 Prozent der Aktien hält.

Mit dem neuen System will der Traditionskonzern - noch immer bekannt für Stahl - einmal mehr beweisen, wie innovativ seine Aufzugssparte ist. Das Geschäft mit Aufzügen und Treppenliften, Rolltreppen und Fluggastbrücken ist die seit Jahren erfolgreichste Sparte von Thyssenkrupp. Sie steht zwar nur für ein Fünftel des Konzernumsatzes, steuert aber fast die Hälfte des Betriebsgewinns bei. Die Aufzugssparte steht zudem im Zentrum der Überlegungen, wenn sich Thyssenkrupp in den nächsten Monaten in zwei eigenständige Unternehmen aufteilen will.

Seit fünf Jahren leitet Andreas Schierenbeck die Sparte mit der vertikalen Mobilität. "Wir sehen zwei große Trends in unserem Umfeld", sagt der Manager. Zum einen nütze die Urbanisierung der Branche: die vielen neuen Hochhäuser, Einkaufszentren und Flughäfen, die weltweit entstehen, benötigen Aufzüge und Rolltreppen. Zum anderen profitieren Thyssenkrupp und die Konkurrenz von der Alterung der Gesellschaft, da viele Senioren auf Treppenlifte im Eigenheim und Aufzüge in der Stadt angewiesen sind. Dabei bauen die Unternehmen nicht nur neue Fahrstühle und Rolltreppen; sie modernisieren und warten auch bestehende Anlagen.

thyssenkrupp Elevator

Auf den Zentimeter genau: Thyssenkrupp will fortan mit VR-Brillen den Einbau von Treppenliften erleichtern.

(Foto: oh)

Dies alles macht Thyssenkrupp Elevator zur Konzernsparte mit den höchsten und - im Vergleich zu Stahlwerken oder Schiffbau - auch planbarsten Gewinnen. Dennoch steht das Aufzugsgeschäft bislang nur mit einem Wert von gut einer Milliarde Euro in der Konzernbilanz. Und das ist ungeschickt, weil Thyssenkrupp eine der niedrigsten Eigenkapitalquoten aller Dax-Unternehmen aufweist; der Ruhrkonzern hat also relativ viele Schulden.

Doch nun kommen die Aufzüge ins Spiel: Denn kürzlich hat Thyssenkrupp entschieden, die wertvolle Sparte mitsamt dem Anlagenbau und dem Geschäft mit Autoteilen in eine neue Thyssenkrupp Industrials AG abzuspalten. Stahlwerke, Handelssparte und Schiffbau verbleiben in einer Thyssenkrupp Materials AG. "Aufgrund von Abschreibungen der Vergangenheit ist das Aufzugsgeschäft de facto mehr wert als in der Bilanz ausgewiesen ist", sagte Konzernchef Guido Kerkhoff, als er den Plan verkündete. "Dieser Wert wird mit einer Teilung zwangsläufig gehoben." Um dieses Mehr an Eigenkapital zu realisieren, hätte der Konzern alternativ seine Vorzeigesparte verkaufen oder an die Börse bringen können. Doch das will die Thyssenkrupp-Spitze nicht.

Stattdessen setzen sie in Essen auf technische und digitale Fortschritte, die das Aufzugsgeschäft noch wertvoller machen sollen. Mittlerweile sammele Thyssenkrupp täglich 100 Gigabyte Daten seiner vielen Aufzüge weltweit, erzählt Aufzugschef Schierenbeck. Im Idealfall wollen die Unternehmen technische Probleme erkennen und beheben, bevor ein Fahrstuhl außer Betrieb gehen muss. Auch Konkurrenten wie Otis aus den USA warten immer mehr Anlagen digital, aus der Ferne. Der finnische Mitbewerber Kone kooperiert hierfür mit IBM, die Firma Schindler aus der Schweiz arbeitet mit Huawei zusammen.

In die Digitalisierung der Treppenlifte habe Thyssenkrupp nun einen "niedrigen, einstelligen Millionenbetrag" investiert, sagt Schierenbeck. Sein Unternehmen benötige künftig zwar weniger Beschäftigte in den Büros im Hintergrund, dafür werde der Vertrieb dank der Datenbrillen wichtiger und schneller.

Die Treppenlifte sind das einzige Privatkundengeschäft von Thyssenkrupp. Die Hilfsmittel kosten zwischen 8000 und 12 000 Euro; vielerorts gewähren die Krankenkasse oder der Staat einen Zuschuss. Thyssenkrupp produziert Treppenlifte seit gut 60 Jahren und verkauft sie in Europa, China und Japan. Der Ruhrkonzern schätzt seinen Marktanteil in Deutschland auf 20 Prozent. Thyssenkrupp konkurriert dabei etwa mit Handicare aus Schweden, Otolift aus den Niederlanden oder Stannah aus den USA. In den vergangenen zehn Jahren habe der Konzern den Umsatz mit Treppenliften verdoppelt, sagt Schierenbeck. Und das Wachstum soll weitergehen - nicht zuletzt dank der schlauen Brille auf der Nase der Außendienstler.

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