Gewalt an Schulen:Aufschrei der Lehrer

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Ganz Frankreich spricht gerade über ein schockierendes Video, das vergangene Woche in einem Gymnasium in der Pariser Vorstadt Créteil aufgenommen wurde. Darin ist ein Schüler zu sehen, der eine Lehrerin mit einer Softair-Pistole bedroht. (Foto: Youtube)
  • Zu Tausenden dokumentieren Frankreichs Lehrer in diesen Tagen auf Twitter, wie ihre Vorgesetzten ihre Nöte ignorieren oder kleinreden.
  • Die Pädagogen berichten, wie sie bespuckt, beleidigt, provoziert und manchmal auch geschubst oder geschlagen werden.
  • In der Pariser Vorstadt Créteil war zuvor ein Gymnasiast dabei gefilmt worden, wie er seiner Lehrerin eine Pistole an den Kopf hält und fordert, sie solle ihn im Klassenbuch als "anwesend" vermerken.

Von Nadia Pantel, Paris, und Susanne Klein, Paris

"Nimm dir das nicht so zu Herzen." Und: "Sie müssen autoritärer auftreten." Oder: "Was hast du denn angestellt, damit dein Schüler so ausrastet?" Zu Tausenden dokumentieren Frankreichs Lehrer in diesen Tagen auf Twitter, wie ihre Vorgesetzten ihre Nöte ignorieren oder kleinreden. Unter dem Schlagwort #pasdevague (auf Deutsch sinngemäß: "kein großes Aufheben machen") sammeln sie Übergriffe ihrer Schüler und die anschließende Reaktion der Schulleitung. Die twitternden Pädagogen berichten, wie sie bespuckt, beleidigt, provoziert und manchmal auch geschubst oder geschlagen werden. Und wie die Direktoren dann meist dazu raten würden, lieber zu schweigen, statt der Sache weiter nachzugehen.

Den öffentlichen Aufschrei der Lehrer hat ein Vorfall am vergangenen Donnerstag ausgelöst. In der Pariser Vorstadt Créteil wurde ein Gymnasiast dabei gefilmt, wie er seiner Lehrerin eine Pistole an den Kopf hält und fordert, sie solle ihn im Klassenbuch als "anwesend" vermerken. Erst nach dem Angriff erfuhr die Lehrerin, dass die Waffe eine Softair-Pistole war. Die Leitung des Gymnasiums entschied sich erst am Tag darauf, mit der bedrohten Lehrerin zur Polizei zu gehen, nachdem das Video im Internet verbreitet worden war und Politiker begonnen hatten zu reagieren.

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron forderte am Samstag das Innenministerium auf, "diese Tat zu bestrafen". Bildungsminister Jean-Michel Blanquer schrieb auf Twitter, "strengstmögliche Maßnahmen" müssten ergriffen werden. Unter dem Stichwort #pasdevague wurden besonders häufig Fälle beschrieben, bei denen aggressive Schüler trotz des ausdrücklichen Wunsches der Lehrer nicht von der Schule verwiesen wurden. Die Vorsitzende der Gewerkschaft der Schulleitungen, Florence Delannoy, sagte dem Fernsehsender BFMTV, dass sie nicht glaube, Schulen würden harte Strafen nur "zögerlich" aussprechen. "Wir stellen nur manchmal fest, dass es auch keine gute Lösung sein kann, wenn man schwierige Kinder zwischen den Schulen hin und her schickt." Daher würden seltener als früher dauerhafte Schulverweise ausgesprochen.

Mit welchen Konsequenzen der Gymnasiast aus Créteil rechnen muss, ist noch unklar. Am Tag nach der Tat ging er mit seinem Vater zur Polizei und sagte dort aus, er habe die Pistole nur zum Scherz gehalten, ohne seine Lehrerin einschüchtern zu wollen. Der Junge wird im kommenden Monat 16 Jahre alt. Nach Aussagen der Staatsanwaltschaft könnte gegen ihn eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren verhängt werden. Die Pistole, die er gehalten hat, sei zwar keine echte Waffe, er habe sie jedoch wie eine solche verwendet.

Bildungsminister Blanquer nutzte den Vorfall, um auf sein bislang populärstes Gesetz zu sprechen zu kommen. Seit September sind auf seine Initiative hin an französischen Grund- und Mittelschulen Mobiltelefone verboten. Gymnasien dürfen frei entscheiden, ob sie Handys vom Gelände verbannen. Der Boulevardzeitung Parisien sagte Blanquer: "Ich ermuntere die Gymnasien, von diesem neuen Gesetz Gebrauch zu machen." Bei dem Überfall in Créteil müsse man sich fragen, ob die Tat nicht "begangen wurde, um gefilmt und verbreitet zu werden". Heute verstärkten die sozialen Netzwerke die Versuchung, das nachzuahmen, was man im Internet oder im Fernsehen gesehen habe. In der Zeitung Le Monde trat der Soziologe Benjamin Moignard dem Eindruck entgegen, Gewalt gegen Lehrer gehöre in Frankreich zur Routine. Moignard hat vor fünf Jahren 18 000 Lehrer nach Gewalt in ihrem Schulalltag befragt. Nur ein Prozent gab an, Opfer von physischer Gewalt geworden zu sein. Allerdings sagten ein Drittel der Befragten, dass sie im laufenden Schuljahr bereits beleidigt worden seien. Moignard spricht von "Polarisationseffekten": Viele Schulen seien gar nicht betroffen, andere umso heftiger.

Auch in Deutschland ist die Gewalt gegen Lehrer in den Fokus gerückt. Eine Umfrage unter 1200 Schulleitungen förderte im Mai zutage, dass es in den vergangenen fünf Jahren an jeder zweiten Schule zu psychischen Attacken gegen Lehrer gekommen ist: Die Lehrer wurden beschimpft, bedroht, beleidigt, belästigt, am häufigsten an Haupt-, Real- und Gesamtschulen. In jeder vierten Schule haben Pädagogen körperliche Angriffe erlebt, zumeist in Grundschulen. In jeder fünften Schule wurden sie durch Cybermobbing bedrängt oder diffamiert. Die Ergebnisse seien "so eindeutig wie erschütternd", hieß es aus dem Verband Bildung und Erziehung (VBE), der die Umfrage beauftragt hatte. Die Schulministerien, die bis dahin gern behauptet hätten, Gewalt gegen Lehrer sei ein Randphänomen, habe man damit Lügen gestraft.

Die von Bildungsforschern am häufigsten geforderte Maßnahme könnte allen Beteiligten helfen

Um das Thema aus der Tabuzone zu holen, hatte es schon 2016 eine Umfrage gegeben, damals unter den Lehrern selbst. Dabei kam heraus, dass hochgerechnet etwa 45 000 Lehrer schon einmal körperlich angegriffen worden sind. Und offenbar fällt es nicht jedem leicht, danach Unterstützung zu bekommen. Beteiligte Schüler und Eltern sind laut Umfrage mehrheitlich uneinsichtig, Beschwerden versanden oft in den Schulbehörden oder Lehrer haben Angst, den Vorfall zu melden und der Schule damit einen Imageschaden zuzufügen.

Diese Angst könnte damit zusammenhängen, dass ein einheitlicher Umgang mit Gewalt gegen Lehrer in Deutschland fehlt. Nach Auskunft des VBE wurde das Thema lange bagatellisiert oder verschwiegen.

Eine bundesweite Erfassung oder gar Meldepflicht existiert nicht, solange keine Gewaltkriminalität vorliegt. Neuerdings aber kommt etwas Bewegung in die Sache. Aufgerüttelt durch die öffentliche Diskussion, kündigte der Präsident der Kultusministerkonferenz, Helmut Holter, im Sommer an, die Gewalt gegen Lehrer eindämmen zu wollen. Er ermunterte Betroffene zu Strafanzeigen, auch wenn die Täter noch nicht strafmündig seien. Schüler müssten die Konsequenzen ihres Handelns spüren. Auch in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland mit den meisten Schülern, tut sich etwas. Dort hat die Schulministerin gerade 54 neue Stellen für Gewaltprävention versprochen. Gute Idee, aber nicht gut genug, kritisierte der VBE. Zumal die Gewalt gegen Lehrer nicht im Zentrum der Maßnahme steht, es geht um Gewalt generell. Die von Bildungsforschern am häufigsten geforderte Maßnahme könnte allen Beteiligten helfen: Investitionen, damit Lehrer mit Schulpsychologen und Sozialarbeitern Teams bilden können. Doch dafür fehlen bislang Tausende Stellen.

© SZ vom 24.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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