Neuauszählung in Moosach:Die Qual mit der Landtagswahl

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  • Die Neuauszählung des Stimmkreises München-Moosach hat bestätigt, dass der Grüne Benjamin Adjei das Direktmandat gewonnen hat.
  • Viele Helfer klagen über teils chaotische Zustände am Wahlabend. Viele Wahlbüros konnten ihre Schnellmeldungen wegen technischer Probleme nicht ans Kreisverwaltungsreferat schicken.
  • Wegen der zahlreichen Pannen war es zu der Neuauszählung gekommen.

Von Kassian Stroh und Benedict Witzenberger

Zwölf Tage liegt die Landtagswahl zurück, der Ärger über die Probleme bei der Auszählung ist alles andere als verraucht - zumindest aber ist die letzte Unklarheit über das Münchner Ergebnis beseitigt. Die Nachzählung im Stimmkreis München-Moosach hat bestätigt, dass Benjamin Adjei (Grüne) das dortige Direktmandat gewonnen hat. Er bekam 17 572 Erststimmen, seine Konkurrentin von der CSU, Mechthilde Wittmann, nur 17 509 - ein hauchdünner Vorsprung von 63 Stimmen. Das gab Kreisverwaltungsreferent Thomas Böhle am Freitag in seiner Funktion als Münchner Stimmkreisleiter bekannt.

Nach der ersten Zählung hatte die Stadt noch einen Vorsprung Adjeis von 87 Stimmen gemeldet. Böhle sprach von "marginalen Korrekturen", die angesichts von mehr als 67 000 zu zählenden Stimmzetteln aus den 101 Moosacher Wahllokalen "völlig üblich" seien. Im Stress eines Wahlabends könne immer mal eine Stimme in einen falschen Stapel rutschen oder fälschlich als ungültig gewertet werden. Im Gegenteil: Die Nachzählung habe gezeigt, dass alle Unterlagen und Wahlurnen den Vorgaben entsprochen hätten, lobt Böhle. "Von Chaos ist nichts zu sehen."

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Über teils chaotische Zustände am Wahlabend klagen indes viele Helfer. "Es war frustrierend", erinnert sich etwa Josef Freundorfer, der im Seniorenzentrum Milbertshofen als Wahlhelfer im Einsatz war. Noch vor 19 Uhr habe man die Erststimmen ausgezählt gehabt, gegen 20 Uhr auch die Zweitstimmen, gegen 23 Uhr schließlich alle Stimmzettel zur Bezirkswahl. So weit, so gut. Weil es jedoch massive technische Probleme gab, konnten die Ergebnisse nicht per Computer ans Wahlamt im Kreisverwaltungsreferat geschickt werden. Das Problem hatten viele Wahllokale, in der Folge war auch die Wahlhelfer-Hotline des KVR überlastet. Erst gegen 22.30 Uhr schickte Freundorfers Wahlvorstand erste Ergebnisse in die Zentrale. So wie viele andere auch.

Es kam vieles zusammen: Serverprobleme, ein Softwarefehler, eine Überlastung des Systems. Das KVR hat eigens Wahlkoffer mit einem integrierten Laptop entwickelt, um die Ergebnisse zu erfassen und zu übermitteln. Die Wahlhelfer mussten sich an diesen erst kompliziert anmelden - aus Sicherheitsgründen -, dann die Ergebnisse eintippen, und wenn die nicht durchgingen, das ganze Procedere von vorne beginnen. Und derweil mussten alle warten. Denn erst wenn alles ordnungsgemäß geschickt war, druckte der ebenfalls in den Koffern enthaltene Drucker das schriftliche Protokoll aus - und das müssen alle Wahlhelfer unterschreiben. "Solche Schludrigkeit bei der IT ist eine Belastungsprobe für Ehrenamtliche", klagt eine Wahlhelferin. Nicht wenige berichten wie sie davon, erst nachts um ein Uhr, teils gar um drei Uhr zu Hause gewesen zu sein.

Für technische Notfälle liegt in den Koffern des KVR auch ein Papierformular bereit, um das Ergebnis zu erfassen - das Kuvert aber darf eigentlich "nur auf Anweisung des Wahlamts" geöffnet werden, wie darauf geschrieben steht. Vielerorts setzten sich Wahlvorstände darüber hinweg und öffneten es eigenmächtig, um voranzukommen. "Der hatte absolut Recht, das so zu machen", rechtfertigt das eine Wahlhelferin aus dem Westend.

Und das alles in der ohnehin stressigen Situation eines Wahlabends: Erst sitzen die Helfer in zwei Schichten je fünf Stunden im Wahllokal, dann beginnt um 18 Uhr die Auszählung. Weil diesmal der Andrang der Wähler so groß war, sei man teils gar nicht mehr auf die Toilette gekommen, berichtet eine Wahlvorständin aus der Innenstadt. "Die Leute waren fix und fertig nach der Vormittagsschicht."

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Mit dieser Ausnahmesituation hatte auch die in Moosach unterlegene Kandidatin Wittmann ihren Antrag begründet, die Wahl dort noch einmal nachzuzählen. Wenn man mehr als zehn Stunden im Einsatz sei, lägen "Flüchtigkeitsfehler bei der nachfolgenden Auszählung geradezu auf der Hand", schrieb sie zwei Tage nach der Wahl an Böhle. Und die könnten bei einem derart knappen Wahlausgang womöglich entscheidend sein. Der zuständige Stimmkreisausschuss unter Böhles Vorsitz lehnte Wittmanns Antrag vergangene Woche allerdings noch ab und entschied sich erst am Dienstag um, die Erststimmen doch noch einmal durch 70 KVR-Mitarbeiter auszählen zu lassen.

Um "jeden Zweifel" auszuräumen, wie Böhle sagt. In den Tagen zuvor waren freilich immer neue Pannen bekannt geworden, die auch im Ältestenrat des Stadtrats bis hinauf zu Oberbürgermeister Dieter Reiter einigen Unmut hervorriefen. Zum Beispiel die Tatsache, dass wegen der immensen Verzögerungen in der Nacht die Ergebnisse von 41 Wahllokalen nicht abgewartet und stattdessen Schätzungen an den Landeswahlleiter gesendet wurden, die erst in den zwei Tagen danach durch die echten Ergebnisse ersetzt wurden.

Nach diesem Hin und Her wirkt Böhle am Freitag erleichtert: Das Ergebnis der Nachzählung zeige ja, dass Wittmanns Einwände nicht gerechtfertigt gewesen seien und die Wahlhelfer gute Arbeit geleistet hätten, sagt er. Auch wenn sie es "aufgrund verschiedener Widrigkeiten nicht leicht" gehabt hätten.

Auch bei Böhle ist längst angekommen, wie groß der Unmut der Wahlhelfer ist. 400 bis 500 haben laut KVR Briefe oder Mails geschickt, teils erboste, teils welche mit konstruktiven Verbesserungsvorschlägen zum Auszählverfahren. Und Böhle verspricht: "Wir werden alle Vorschläge und alle Kritik intensiv anschauen", am Ende werde ein "Wahlerfahrungsbericht" stehen, um künftig besser organisiert zu sein.

Ein paar Ideen gibt es bereits. Mehr Wahllokale und Briefwahlbezirke einrichten zum Beispiel, um die Zahl der jeweils auszuzählenden Stimmen zu reduzieren. Das hat das KVR nach eigener Auskunft auch diesmal schon getan, verglichen mit der Landtagswahl 2013 - aber nicht mit einer derart hohen Wahlbeteiligung kalkuliert. Und als sich der Anstieg in den vergangenen Wochen abzeichnete, konnte es nicht mehr reagieren: Zahl und Zuschnitt der Stimmbezirke müssen Monate im Voraus festgelegt und veröffentlicht werden. Zumal das generelle Problem bleibt, dass sich die Stadt schwer tut, ausreichend Wahlhelfer zu rekrutieren. 10 800 waren es diesmal - dank einer großen Werbekampagne in den vergangenen Monaten. "Man kann sie nicht kurzfristig vermehren", sagt Böhle, die von Vornherein eingeplante Reserve habe nicht ausgereicht.

"Der entscheidende Stressfaktor aber war die Technik", resümiert Wahlamtsleiter Leo Beck. So saßen die Helfer lange entnervt vor ihren Wahl-Laptops, und im Nachhinein erweist sich als Problem, so paradox es klingt, dass es nie einen Totalausfall der Technik gab, sondern immer nur partielle Störungen. Immer wieder habe es von den Technikern des zuständigen IT-Referats der Stadt geheißen, die Störungen dauerten nicht lange, sagt Beck. Hätte man von Anfang an gewusst, dass dem nicht so ist, hätte man den Wahlhelfern früher mitteilen können, sie sollten ihre Ergebnisse via Telefon oder Papier schicken.

An den Wahlkoffern, die erstmals bei der Bundestagswahl 2017 eingesetzt wurden, will Böhle aber grundsätzlich festhalten. "Sie sind, wenn sie funktionieren, optimal." Denn dann entfielen nicht nur viele Fehlerquellen bei der telefonischen Übermittlung der Ergebnisse, sondern auch der Aufwand, die Ergebnisse im KVR mühsam zusammenfassen zu müssen - so wie früher, als die Behörde nach einer Wahl zwei Tage geschlossen blieb und 1000 Mitarbeiter mit der Wahl beschäftigt waren. "Ich werde aber nicht an den Koffern festhalten, wenn vor der nächsten Wahl nicht alles dafür spricht, dass sie funktionieren", sagt Böhle.

Manche kleinere Probleme lassen sich freilich auch einfach lösen: Zum Beispiel, dass es mancherorts zu wenig Wahlkabinen gab. Zumindest zu wenig für den Andrang. "Andere Wahlhelfer, die schon öfter dabei waren, haben gesagt, das hätten sie noch nie erlebt", berichtet Isolde Fugunt, die in der Grundschule an der Guldeinstraße im Einsatz war. Vielerorts in München waren die Schlangen lang, und weil jeder, der sich bis 18 Uhr einreihte, noch wählen durfte, konnten die Helfer in vielen Wahllokalen erst gegen halb sieben mit dem Auszählen beginnen. Sieben Wahlkabinen gebe es je Lokal, sagt Böhle, und nach Möglichkeit sollten die auch alle aufgestellt werden.

Das geschah aber nicht überall - teils aus Platzgründen, teils weil die Wahlvorstände großen Abstand ließen, um das Wahlgeheimnis zu wahren. So war es etwa in Böhles Wahllokal in der Isarvorstadt, wie er berichtet. Als er dort nachmittags selbst zum Wählen war und die lange Schlange sah, "da haben wir angepackt und noch fünf weitere aufgestellt". Es waren ja noch welche da.

© SZ vom 27.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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