Gewalt gegen Frauen:Wie Mexikanerinnen sich gegen häusliche Gewalt wehren

Mexiko-City - Protestaktion gegen Frauengewalt

In Mexiko-Stadt geht eine Passantin an pinken Kreuzen vorbei, die auf die Gewalt gegen Frauen hinweisen.

(Foto: Pedro Pardo/AFP)
  • In Mexiko geschehen sieben bis zwölf Frauenmorde pro Tag, auch häusliche Gewalt gegen Frauen ist weit verbreitet.
  • Die Gewalt hat of lebenslange körperliche und psychische Folgen, auch die Wirtschaft des Landes leidet darunter.
  • Es gibt zwar erste Maßnahmen zum Schutz von Frauen, doch sie bleiben häufig wirkungslos. Täter kommen oft straffrei davon.

Von Arturo Barba, Claudia Macedo und Astrid Viciano

Es war bereits dunkel, als sich Lilia Alejandra García Andrade an jenem 14. Februar 2001 nach ihrer Arbeit in einer Fabrik auf den Weg nach Hause machte. Dort sollte die 17-Jährige nie ankommen. Noch in derselben Nacht meldete ihre Mutter Norma Andrade sie als vermisst, doch die Polizei unternahm nichts. Sieben Tage später, dank eines anonymen Anrufs, fand man sie nahe der Fabrik, auf einem brachliegenden Grundstück. Das Mädchen war einen Tag zuvor gestorben, vorher war sie gefoltert und vergewaltigt worden, sechs Tage lang. "Das riss mein Leben aus den Fugen", sagt Andrade.

Bis heute bleibt die Ermordung der Tochter unbestraft. Ihr Tod zählt zu den Hunderten Fällen, die als Las Muertas de Juárez, die Toten von Juárez, inzwischen weltweit bekannt sind. Die genaue Zahl der dort ermordeten Frauen kennt niemand, das Frauennetzwerk von Ciudad Juárez schätzt, dass zwischen 1993 und 2017 mehr als 1500 Frauen getötet wurden. Bis heute werden in kaum einem Land Lateinamerikas so viele Frauen umgebracht wie in Mexiko, dort geschehen sieben bis zwölf Frauenmorde pro Tag.

Seit ein paar Jahren hat jedoch nicht allein die extreme Gewalt in Mexiko für Aufsehen gesorgt. Die Reaktionen der Angehörigen der Opfer dort gelten inzwischen als Vorbild für viele andere Länder: Sie tun sich in Organisationen zusammen, sie fordern Gerechtigkeit für die Opfer und deren Familien, angesichts der Trägheit des Staates und eines Großteils der Bevölkerung. Was lange Zeit nicht bedacht wurde, wird endlich zum Thema: dass Gewalt teuer ist, für jeden einzelnen und für den Staat.

Zwar gibt es bis heute keine gute Methode, die sozioökonomischen Kosten von Gewalt gegen Frauen zu bestimmen. Doch wissen Ärzte wie Psychologen schon lange, dass Gewalt körperliche wie psychische Folgen hat, oft lebenslang. Gewalt hindert Menschen, ihrer Armut zu entkommen, überlebende Opfer sind oft zu traumatisiert, um die Schule zu beenden oder einen Beruf zu erlernen. Die Folgen von Misshandlungen führen zu immensen Kosten für das Gesundheitssystem eines Landes.

Laut einer landesweiten Umfrage zu häuslicher Gewalt aus dem Jahr 2016 erleiden 43,9 Prozent der mexikanischen Frauen Gewalt vonseiten ihres Partners. Jenseits des individuellen Schicksals hat das auch zur Folge, dass diese Frauen an ihren Arbeitsplätzen weniger produktiv sind. Was angesichts des Leids der Frauen nach einer zynischen Berechnung klingen mag, soll zunehmend als Argument dienen, auch aus Staatsinteresse gegen häusliche Gewalt vorzugehen. So ergab eine Studie der Weltbank, dass jedes Jahr wegen Vergewaltigungen und häuslicher Gewalt gegen Frauen neun Millionen gesunde Lebensjahre (DALYs) weltweit verloren gehen. Das sind mehr verlorene Tage als durch alle Krebserkrankungen und Autounfälle von Frauen zusammen.

Ihr Blick ist traurig und ausweichend, fast ständig schaut sie im Gespräch auf den Boden

Bislang werden die misshandelten Frauen in Mexiko stigmatisiert, was ihnen psychisch oft noch mehr zusetzt als der Missbrauch selbst, berichtet Ärztin Luciana Ramos vom nationalen Institut für Psychiatrie. Die Polizeibehörden machten sie erneut zu Opfern, weil sie dort meist schlecht behandelt werden: "Die Institutionen stellen keinen Schutzfaktor für diejenigen dar, die um Hilfe und Gerechtigkeit bitten."

Norma Andrade etwa musste sich nach dem Mord an ihrer Tochter um ihre beiden Enkelkinder kümmern: Jade, 20 Monate und José Kaleb, fünf Monate alt. Die Kosten für das Begräbnis und die psychologische Betreuung für sie und die Enkelkinder überstiegen jedoch das Einkommen der Lehrerin. Daher beschloss Norma Andrade, gemeinsam mit anderen Angehörigen von ermordeten Frauen, einen Verein zu gründen. "Unsere Töchter auf dem Heimweg" hilft diesen Familien.

Immerhin wurde der Frauenmord, der Feminizid, in Mexiko im Jahr 2009 erstmals als autonomer Straftatbestand anerkannt. Anlass war das Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte über die Ermordung einer Gruppe von Frauen auf einem Baumwollfeld in Ciudad Juárez im Jahr 2001. Das Netzwerk "Mesa de Mujeres", die Frauenrunde der Ciudad Juárez, spielte eine maßgebliche Rolle in diesem Gerichtsprozess.

Seit 2007 hat der mexikanische Staat Maßnahmen ergriffen, zumindest vordergründig: Er hat ein neues Gesetz verkündet und die nationale Kommission zur Prävention und Beseitigung von Gewalt gegen Frauen ins Leben gerufen. Für die Sozialwissenschaftlerin Lucía Melgar vom Autonomen Technischen Institut Mexikos "täuscht die Regierung jedoch nur Aktivität vor, das Problem wird nicht gelöst".

Gewalt als Konstante der Kindheit

Für die Rechtsanwältin Verónica Hernández, 46 Jahre alt, war Gewalt eine Konstante ihrer Kindheit. Der Vater ohrfeigte die Mutter und schlug sie mit Stöcken, Drähten und anderen Gegenständen, die er in die Finger bekam. Vor den Augen der Tochter. Die Erinnerungen schmerzen Hernández bis heute. Vor allem aber bereut sie etwas anderes: Dass sie zuließ, dass sich dieses Muster von Gewalt in ihrer eigenen Beziehung wiederholte. 22 Jahre lang hat sie ihr Leben mit einem eifersüchtigen und gewalttätigen Alkoholiker geteilt.

Sie stritten häufig, schrien sich an, auch die Schläge blieben nicht lange aus. Trotzdem heirateten sie und gründeten gemeinsam eine Anwaltskanzlei. Ihr Blick ist traurig und ausweichend, fast ständig blickt Hernández im Gespräch auf den Boden oder die Wände des Raums des Sozialzentrums "Amor y Transformación", Liebe und Verwandlung. Seit ein paar Jahren gibt es diese und andere Organisationen, die Menschen mit destruktiven Beziehungen Unterstützung und Therapien anbieten.

Hernández ist eine von 30,7 Millionen Mexikanern im Alter von 15 Jahren oder älter, die mindestens eine Gewalttat erlitten haben, so ergab es eine landesweite Umfrage aus dem Jahr 2016. Das Leben von zwei Dritteln der mexikanischen Frauen über 15 Jahre ist von Gewalt durchtränkt. In vielen Fällen beginnt der Missbrauch in der Kindheit. Allein im Jahr 2015 registrierte die Generalstaatsanwaltschaft 30 000 minderjährige Opfer von Menschenhandel und sexueller Ausbeutung, 80 Prozent von ihnen zwischen zehn und 14 Jahren alt.

"Da die Taten meist nicht bestraft werden, hat das Phänomen sich weiter ausgebreitet"

Wie viele andere Mexikanerinnen wuchs Hernández mit Vorstellungen auf, die für ihre Kultur typisch sind: Dass Liebe alles heilen kann. "Ich war bereit, die Gewalt auszuhalten und alles zu vergeben. Ich dachte, dass ich belohnt würde, wenn ich in diese Beziehung investiere. Doch die Misshandlungen hörten nicht auf. Viele Male musste sie außerhalb ihres Hauses Schutz suchen, wenn ihr Mann wieder betrunken war. Wegen seiner Alkoholabhängigkeit mussten sie auch die Anwaltskanzlei schließen. Schließlich musste sie alle Lebenskosten allein bestreiten. Laut der nationalen Umfrage von 2016 mussten 6,9 Prozent der Frauen wegen häuslicher Gewalt ihren Arbeitsplatz wechseln, und eine von 20 Frauen hat aufgrund der erlittenen Gewalttätigkeiten ihren Arbeitsplatz verloren. Eine von zehn misshandelten Frauen sagte, sie hätten als direkte Folge von Gewalt nicht zur Arbeit erscheinen können.

Trotz des Engagements und des Gerichtsurteils hat sich die Situation in Mexiko keineswegs verbessert. Zwischen 1985 und 2016 wurden in Mexiko 52 210 Frauen umgebracht, ergab eine Analyse der Organisation UN Women und dem Nationalinstitut für Frauen in Mexiko. "Da die Taten meist nicht bestraft werden, hat das Phänomen sich weiter ausgebreitet und ist zur Normalität geworden", sagt die Sozialwissenschaftlerin Lucía Melgar.

Verletzlich und schutzlos hat sich die Dichterin Aimé Solano seit ihrer Kindheit gefühlt; die heute 53 Jahre alte Frau wurde als Kleinkind zur Adoption freigegeben. In der Adoptivfamilie wurde sie misshandelt, von Onkeln und Cousins sexuell missbraucht, mit der Adoptivmutter als Komplizin der Täter. "Lass doch, dein Onkel möchte dich umarmen", hatte die Frau zu dem Mädchen gesagt. "Im Alter von acht Jahren fühlte ich mich sehr alt; ich wollte nicht mehr existieren", sagt Aimé Solano.

"Jetzt fühle ich mich schuldig"

Als ihr Ehemann später ihre beiden Töchter und ihren Sohn verprügelte, konnte sie sie nicht verteidigen. "Als eine meiner Töchter zehn Jahre alt war, schlug er ihren Kopf auf den Tisch, aber ich hatte solche Angst vor ihm, dass ich nichts tat. Ich versteckte mich mit meinen anderen Kindern im Schlafzimmer." Sie verstummt. Dann sagt sie: "Jetzt fühle ich mich schuldig, dass ich sie nicht verteidigt habe." Solano musste sich einen Job suchen, die Kinderbetreuung und ihre neue Unterkunft finanzieren. Erst als sie eine Stelle als Gymnasiallehrerin gefunden hatte, befreite sie sich aus dem Kreislauf der Gewalt.

Norma Andrade sucht weiter nach Gerechtigkeit. Wegen der Untätigkeit der Regierung zog die Mutter der toten Lilia vor die Interamerikanische Menschenrechtskommission. In diesem Jahr trug ihr Kampf endlich erste Früchte: Am 7. Mai 2018, während der 168. Sitzung der Kommission, wurde die mexikanische Regierung international verantwortlich gemacht für "die Mängel, die Verzögerungen und fehlende Sensibilität" bei der Untersuchung der Ermordung einer jungen Frau: Der 17-jährigen Lilia Andrade.

Dieses Projekt wurde mit Unterstützung des European Journalism Centre über sein Global Health Journalism Grant Programme umgesetzt.

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