Erdbebenrisiko in Istanbul:So wollen Geologen vor Erdbeben warnen

Mobile Verkäufer sorgen nicht nur in Istanbuls Straßen für besonderen Flair - nun auch in der Oberpfalz.

In Istanbul leben rund 15 Millionen Menschen. Ohne Vorwarnung hätte ein Starkbeben katastrophale Folgen.

(Foto: dpa)
  • Statistiken zeigen, dass Istanbul in naher Zukunft wahrscheinlich ein starkes Erdbeben bevorsteht.
  • Wann das sein wird, lässt sich nicht genau sagen.
  • Forscher haben nun einen Weg gefunden, der das Frühwarnsystem verbessern könnte.

Von Sebastian Kirschner

Fünfzehn Kilometer südlich von Istanbuls Altstadt tickt eine Zeitbombe im Untergrund. Dort verläuft eine geologische Spannungszone, die sich jederzeit in einem Erdbeben von verheerenden Ausmaßen entladen kann. Wann genau es soweit ist, werden die Einwohner wahrscheinlich erst Sekunden vorher erfahren. Nun haben Wissenschaftler am Deutschen GeoForschungszentrum (GFZ) in Potsdam ein neues Verfahren entwickelt, das die Frühwarnzeit deutlich verlängern könnte.

In Geologenkreisen gilt Istanbul schon lange als eine der gefährlichsten Gegenden der Welt, neben San Francisco und Tokio. Die Millionen-Metropole liegt direkt an der sogenannten Nordanatolischen Verwerfung, dem Ort, an dem die Anatolische Kontinentalplatte im Süden und die Eurasische im Norden aneinander vorbei wollen. Doch die Platten haben sich ineinander verhakt und es staut sich immer mehr Energie im Untergrund auf. Wenn sich die Platten lösen, wird es einen großen Knall geben. Die Frage ist nur: Wann?

Einige türkische Wissenschaftler schätzen, dass sich das Beben nicht vor 2045 ereignen wird. Marco Bohnhoff vom GFZ hält solche Angaben für unseriös. Nach Zahlen gefragt schätzt er die Wahrscheinlichkeit auf 70 Prozent, dass die Katastrophe in den nächsten 30 Jahren eintritt. Tatsächlich heißt das für Bohnhoff aber: "Das Beben kann jederzeit auftreten." Deshalb arbeiten er und seine Kollegen seit Jahren an einem bisher ungelösten Problem der Geologie: Wie kann man gefährliche Erdstöße vorhersagen? "Wir können zwar den Ort und die Stärke eines kommenden Bebens abschätzen, nicht aber seinen Zeitpunkt", sagt Bohnhoff.

Immerhin kennen Geologen mittlerweile eine Reihe von sogenannten Vorläuferphänomenen, die im Vorfeld von Erdbeben auftreten können. Beispielsweise wurde beobachtet, dass das Edelgas Radon vor einem Beben vermehrt im Boden freigesetzt wird. Auch Tiere haben sich vor Erdbeben mehrfach seltsam verhalten. Keines dieser Phänomene taugt aber bisher, um zuverlässig den Zeitpunkt des Bebens vorherzusagen.

Eine rechtzeitige Warnung wäre für die Bewohner jedoch lebenswichtig. Dann bleibt genügend Zeit, um Brücken und Tunnels automatisch zu sperren, Ampeln auf Rot und andere kritische Infrastruktur abzuschalten.

Da Istanbul so nahe an der kritischen Zone liegt, bleiben aber nur zwei bis fünf Sekunden für eine Frühwarnung. Zum Vergleich: Mexikostadt lag beim Starkbeben im September 2017 rund 140 Kilometer vom Epizentrum entfernt. Dort blieben fast 30 Sekunden Zeit - "für Frühwarnung eine Ewigkeit", sagt Bohnhoff.

In der Fachzeitschrift Scientific Reports stellt Bohnhoff mit Kollegen nun ein neues Verfahren vor, das die Frühwarnzeit in der Region Istanbul erheblich verlängern könnte - im besten Fall auf mehrere Stunden. Die Wissenschaftler nutzen dabei ein Netz von Bohrlöchern in der Gegend von Istanbul, in denen sie in knapp 300 Metern Tiefe auch Erdbewegungen aufzeichnen können, die bisher für die meisten seismischen Netze der Welt zu schwach waren. Unter den kleinen Erschütterungen vermuten sie sogenannte "Vorbereitungsprozesse" für ein größeres Erdbeben.

Mikro-Beben als Vorboten?

Einen solchen Vorbereitungsprozess haben die Forscher im Juni 2016 südlich von Istanbul eingehend untersucht. Auch wenn das Beben mit der Stärke 4,2 wohl nur ein paar Gläser hat wackeln lassen, handelte es sich regional um das größte seismische Ereignis seit Jahren. Dort beobachtete Bohnhoff Dutzende von Mikro-Beben in den Stunden vor dem eigentlichen Hauptbeben. Wäre das wirklich ein charakteristisches Merkmal, ließe sich die Warnzeit für künftige Erdbeben in der Region deutlich ausdehnen.

Doch hier liegt auch der Haken: Ähnliche Vorläuferaktivitäten sind zwar auch von jüngsten Starkbeben in Japan 2011 und Chile 2014 bekannt. Aber die Beobachtungen sind längst nicht allgemeingültig, wie auch Bohnhoff betont. Dazu ist das System Erde zu komplex und jedes Erdbeben hängt von zu vielen individuellen Faktoren ab.

Ein wichtiges Teil im großen Puzzle Erdbebenvorhersage

Martin Mai ist von der Bedeutung der Studie trotzdem überzeugt. Er ist Professor für Geophysik an der King Abdullah Universität für Wissenschaft und Technik in Saudi Arabien. Aus Sicht von Mai ist die Studie "ein weiteres Teil im großen Puzzle 'Ist Erdbebenvorhersage möglich?'" Wenn es eine Schwachstelle an dem neuen Verfahren gibt, dann dass noch viele ähnliche Datensätze aufgezeichnet werden müssten, um eine bessere statistische Grundlage zu haben. "Am besten mit noch mehr seismischen Instrumenten und an vielen Orten, auch außerhalb der Türkei", sagt Mai. Das wird sicher aber noch Jahre bis Jahrzehnte dauern - Zeit, die Istanbul vielleicht nicht mehr bleibt.

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Erde entlang der Nordanatolischen Verwerfung immer wieder heftig gebebt. Einzig der Bereich um Istanbul blieb seit über 250 Jahren von Starkbeben verschont: Das letzte große Beben erschütterte die Stadt im Jahr 1766. Statistisch gesehen ist ein Starkbeben der Magnitude 7 und höher in der Region längst überfällig.

Für die Stadt am Bosporus hätte das verheerende Folgen. In der größten Stadt Europas leben derzeit rund 15 Millionen Menschen, fast 20 Prozent der türkischen Bevölkerung. Mehr als 40 Prozent des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet die Türkei hier. Bei einem Starkbeben rechnen die Vereinten Nationen (UN) mit bis zu 70 000 Todesopfern und 120 000 Schwerverletzten. Dazu tragen auch die in weiten Teilen nicht erdbebensicheren Bauten bei.

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