Georgische Literatur:Vergebliche Suche nach der passenden Witwe

Georgische Literatur: Dawit Kldiaschwili: Samanischwilis Stiefmutter. Roman. Aus dem Georgischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rachel Gratzfeld. Dörlemann Verlag, Zürich 2018. 160 Seiten, 20 Euro.

Dawit Kldiaschwili: Samanischwilis Stiefmutter. Roman. Aus dem Georgischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Rachel Gratzfeld. Dörlemann Verlag, Zürich 2018. 160 Seiten, 20 Euro.

Dawit Kldiaschwilis Roman "Samanischwilis Stiefmutter" ist in Georgien ungebrochen populär. Jetzt gibt es ihn auf Deutsch.

Von Ulrich Rüdenauer

Bei Erbangelegenheiten hört der Spaß auf. Geschwister, Tanten und Schwippschwäger, die auf Familienfeiern mit sanfter Stimme schäfchenhaft das Loblied unverbrüchlicher Bande singen, verwandeln sich über Nacht in reißende Wölfe, wenn die Filetstücke eines Nachlasses verteilt werden. Die Sorge, bei der Testamentseröffnung den Kürzeren zu ziehen, scheint raubtierhafte Instinkte zu wecken. Unzählbare Bücher und Filme behandeln die vom letzten Willen hervorgerufenen Aufregungen; Verstorbene oder künftige Erblasser bürden ihren raffsüchtigen Nachkommen zuweilen einiges auf. Darin gleichen sich so ziemlich alle unglücklichen Familien.

Bekina Samanischwili ist zwar ein mittelloser Landadeliger im bäuerlichen Georgien Ende des 19. Jahrhunderts, aber er ist dünkelhaft genug, seinen Grund und Boden als solides Vermögen zu betrachten. Realistisch gesehen reicht es allerdings gerade so, dem Schicksal anderer verarmter "Herbstfürsten" zu entgehen - solchen, denen die spärlichen Ernteerträge kaum das tägliche Brot sichern.

Kaum hat man sich behaglich eingerichtet, kommt etwas Unschönes dazwischen

Samanischwilis Sohn Platon und dessen Frau Melano wissen um die kargen Erlöse aus dem väterlichen Besitz, schätzen sich aber dennoch froh, nicht zu den Hungerleidern zu gehören, ja, eines Tages vom bescheidenen Erbe zumindest ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Wenn sich der Mensch aber in seinem Alltag allzu behaglich einrichtet, kommt meist etwas Unschönes dazwischen. Das ist bei den Samanischwilis nicht anders. "Das Unglück begann, als das Schicksal dem Leben der armen Marika, Bekinas Frau, ein Ende setzte." Nach kurzer Trauerzeit will der rüstige Witwer nämlich ein zweites Mal vor den Traualtar treten. Und dem Filius Platon schwant Böses: Die "Begleiterscheinungen" einer solchen Heirat in Form weiteren Nachwuchses schweben nun als Damoklesschwert über der Familie. Einen zweiten Erben würde das familiäre Anwesen nicht ernähren können.

Das ist die zu allerlei burlesken Verwicklungen führende Ausgangskonstellation von Dawit Kldiaschwilis satirischem Roman "Samanischwilis Stiefmutter". Dieser Erzähler und Dramatiker, 1862 in der Region Imeretien geboren, entstammte selbst dem Milieu, das er in seinen Geschichten mit realistischen Mitteln, feiner Ironie und sanfter Zugewandtheit schilderte. Seine Herkunft aus dem verarmten Kleinadel gestattete es ihm, die Selbstüberschätzung der bedeutungslos gewordenen Aristokratie treffend zu karikieren.

Mit der Annexion Georgiens durch Russland im Jahr 1801 setzte nämlich auch der Bedeutungsverlust des Adels eher rasant als schleichend ein, und Kldiaschwilis Familie gehörte zu den Leidtragenden dieser großpolitischen Wetterlage. Mit "Samanischwilis Stiefmutter" ist ihm allerdings etwas gelungen, das weit über die Bestandsaufnahme einer historischen Konstellation und die Schilderung einer taumelnden Gesellschaftsschicht hinausgeht. Kldiaschwili muss tief in die Seelengründe der Georgier vorgedrungen sein, etwas berührt haben, was vielleicht als mentalitätsgeschichtliche Konstante gelesen werden kann; das beschreibt das Nachwort der exzellenten Übersetzerin Rachel Gratzfeld. Kldiaschwilis Roman wurde immerhin zwei Mal verfilmt, wird noch immer verehrt und hat vor allem in dramatisierter Form Eingang in den Theaterkanon des Landes gefunden. Bis heute finden sich georgische Leser "im Positiven wie im Negativen" in den Figuren wieder.

Diese anhaltende Popularität erklärt sich gewiss aus Kldiaschwilis erzählerischem Vermögen, sozialrealistische mit spöttischen Darstellungen zu kombinieren, das Tragische mit dem Grotesken; sein Roman ist ein raffiniertes, hintersinniges Spiel mit Klischees und humoristischen Motiven, auch wenn der Ton gelassen, episch wirkt. Da ist der von Zukunftsangst gepeinigte Sohn, der, um Schlimmeres zu verhindern, für seinen Vater auf Brautschau geht. Er sucht eine mindestens zweimalige Witwe, die kinderlos geblieben ist - er will ja nicht Gefahr laufen, mit einem Stiefbruder beschenkt zu werden. Dann gibt es den trinkfreudigen Schwager Kirile, der das Dasein als einzigen Rausch begreift, leichtfertig von Feier zu Feier stolpert und sich Platon als Berater und Begleiter anbietet. Das führt zu irrwitzigen, turbulenten Szenen.

Und am Ende, als durch vielerlei Zufälle und einen gerissenen Kuppler die geeignete Frau gefunden ist, hat Platon nicht nur einen undurchsichtigen neuen Verwandten am Hals, sondern auch eine ältere Stiefmama, die ganz unerwartet das späte Mutterglück ereilt. Die Frauen sind in diesem Buch immer passiv. Sie erdulden das ihnen Aufgebürdete, sie fügen sich. Eine Kritik an den Verhältnissen lässt sich daraus zwar nicht lesen, aber doch eine sensible Wahrnehmung der verstörenden Folgen patriarchaler Macht.

"Samanischwilis Stiefmutter" porträtiert typische Figuren der georgischen Gesellschaft, Menschen, die sich durch unwirtliche Zeiten schlagen müssen. Mit ihnen kann man in die Vergangenheit reisen, um in der Gegenwart anzukommen.

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