Familiengedächtnis:Profiteure am Teetisch

Familiengedächtnis: Die Journalistin und Dokumentarfilmerin Géraldine Schwarz.

Die Journalistin und Dokumentarfilmerin Géraldine Schwarz.

(Foto: Mathias Bothor; Mathias Bothor/Secession Verlag)

Géraldine Schwarz folgt in "Die Gedächtnislosen" den Spuren ihrer deutschen und französischen Vorfahren im Zweiten Weltkrieg. Sie zeigt, wie zaghaft die Geschichte des Mitläufertums in Europa aufgearbeitet wurde.

Von Alex Rühle

"Erinnerungen einer Europäerin". Das klingt groß. Als spreche eine 80-jährige Staatenlenkerin letztgültige Worte über ein Jahrhundert. Dabei ist die Autorin gerade mal 44 Jahre alt: Géraldine Schwarz, Tochter eines Deutschen und einer Französin, Journalistin, ehemalige Deutschlandkorrespondentin für Agence France Press. Schwarz hätte diesen vorderhand etwas prätentiös klingenden Untertitel wahrscheinlich nicht selbst gewählt, im französischen Original hat ihr Buch jedenfalls einen der ersten Sätze als Untertitel: "Sie waren einfach Mitläufer, Menschen, die mit dem Strom schwammen."

"Sie", das sind ihre Großeltern, Karl und Lydia Schwarz. Oder auch "Die Gedächtnislosen", wie der eigentliche Titel dieses Buchs lautet, eines großen Textes über die Kraft der Verdrängung und die Mechanismen des Schweigens. Über Familiengeheimnisse und ihre Wechselwirkung mit der Politik. Und am Ende auch über Europa in Zeiten des neu erstarkenden Rechtspopulismus, der in Schwarz' Augen seine stärkte Kraft aus der früheren Verdrängung und den damit zusammenhängenden Geschichtslügen zieht.

Alles fing damit an, dass die Autorin im Haus ihrer Großeltern einen Briefwechsel fand. Ihr Großvater war Geschäftsmann in Mannheim, im August 1938 erwarb er von zwei jüdischen Brüdern, Julius und Siegmund Löbmann, deren Mineralölfirma. Ganz legal, mit Stempel und gegen Bezahlung. So wie sich Tausende andere "Reichsdeutsche" im Zuge der "Arisierung" jüdische Unternehmen zu lächerlichen Preisen unter den Nagel rissen. Karl Schwarz nahm Julius Löbmann danach noch einige Monate mit auf Geschäftsreise, damit der ihn all seinen Stammkunden vorstellen konnte. Nach dem 9. November war damit Schluss, schließlich wurde direkt nach den Pogromen die Verordnung zur endgültigen "Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben" beschlossen.

Einige Jahre nach dem Krieg meldete sich Julius Löbmann aus Amerika bei Karl Schwarz, weil er Reparationszahlungen wollte. Der Ton, in dem Karl Schwarz ihm antwortete, könnte aus dem so peinlichen wie umfangreichen Lehrbuch für deutsche Verdrängung und Selbstviktimisierung stammen. In den ersten Briefen schreibt er recht cremig, wie schön, dass Löbmann überlebt habe (alle anderen Mitglieder der Familie Löbmann sind in den Vernichtungslagern umgekommen). Aber es sei alles sehr schwer, man habe ja in Deutschland auch gelitten, und so habe jeder sein Päckchen zu tragen, alles Gute und auf Wiedersehen. Löbmann aber pochte auf sein Recht, weshalb die Mannheimer Antwortbriefe immer wütender wurden, bis Schwarz Löbmann schließlich des Betrugs bezichtigte und sich als unschuldig verfolgtes Opfer eines kaltherzigen Juden sah.

Diese Geschichte eines typischen Mitläufertums, der späteren Uneinsichtigkeit und düsteren Schuldumkehr bettet Schwarz sehr gekonnt in ein großes Tableau ein. Sie erzählt von der schrittweisen Ausgrenzung der Juden aus dem Wirtschafts- und Sozialleben, die bald in erste Deportationen münden - und fragt, was passiert wäre, wenn die Mehrheit nicht schweigend zugeschaut hätte.

Alle erklärten ihr tiefes Mitgefühl, aber niemand bot seine Gastfreundschaft an

Immerhin erreichten protestierende Bürger 1941 im Verbund mit den Kirchen, dass das Euthanasieprogramm großteils beendet wurde. Schwarz schreibt in diesem Zusammenhang, Hitler habe angesichts der Empörung in der Bevölkerung "sein Vorhaben gestoppt", was nicht ganz stimmt: Die "Erwachseneneuthanasie" wurde im August 1941 eingestellt, die sogenannte "Kindereuthanasie" wurde fortgesetzt, und auch behinderte Erwachsene wurden in einzelnen Pflegeanstalten umgebracht. Solche kleinen sprachlichen und damit auch faktischen Ungenauigkeiten finden sich mehrfach und sind ärgerlich, gerade weil das Buch ansonsten so sorgfältig und kraftvoll seine Linien zieht, es meisterlich versteht, die große Geschichte im kleinen Familienschicksal prismatisch einzufangen und umgekehrt das einzelne Erlebnis in ein weiteres Bild zu setzen.

So skizziert sie den verzweifelten Kampf der Familie Löbmann in Mannheim und beschreibt dazu die internationale Konferenz im Juli 1938 in Évian-les-Bains, am glitzernden Ufer des Genfer Sees, zu der Franklin D. Roosevelt eingeladen hatte in der Hoffnung, dass die Teilnehmerstaaten sich verpflichten würden, die 360 000 Juden aufzunehmen, die in Deutschland in der Falle saßen. 32 Staaten, 24 Hilfsorganisationen und "die internationalen Delegierten lösten sich auf der Rednerbühne darin ab, ihr tiefstes Mitgefühl für das Schicksal der europäischen Juden auszudrücken". Aber niemand bot seine Gastfreundschaft an. Frankreich erklärte, es habe "einen äußersten Sättigungsgrad in der Flüchtlingsfrage" erreicht, Australien ließ verlauten, man habe "kein Rassenproblem" und verspüre "auch keine Neigung, durch eine ausländische Masseneinwanderung eines zu importieren".

Später gibt Schwarz selber die Antwort auf ihre Frage nach dem Wegschauen und den Mechanismen des Mitläufertums, als sie eine Kindheitserinnerung schildert: Die Mannheimer Sonntagnachmittage, an denen ihre Großmutter stolz ihr feines chinesisches Teeservice präsentierte. Der kleinen Géraldine imponierte diese Sammlung genauso wie die imperial wirkenden Esszimmermöbel. Erst ihr Vater öffnete ihr die Augen dafür, dass diese prunkvollen Gegenstände erst im Krieg aufgetaucht seien, alle Fotos der Vorkriegszeit zeigten ein sehr viel einfacheres Interieur.

Die Großmutter hatte vom Holocaust profitiert, von dem sie selbstverständlich nichts wusste. Aber dass 2000 Mannheimer Juden am 22. Oktober 1940 in einen Zug hatten steigen müssen; dass danach die Möbel und sonstigen Habseligkeiten direkt aus den plötzlich leer stehenden Wohnungen der Deportierten zu Schleuderpreisen verkauft wurden, das wusste sie sehr wohl. Diese so harmlos beginnende Sonntagsszene belegt am Ende Götz Alys zentrale Behauptung, dass der Holocaust zugleich eine monströse Umverteilungsaktion war, der allen Profiteuren zumindest zupasskam. Und wer ein Teeservice erbeutet, hat auch ein heimliches Interesse daran, dass derjenige, von dem man es hat, nie wieder auftaucht.

Der Mannheimer Zug, in dem auch die Familie Löbmann saß, fuhr ins Internierungslager Gurs, im Südwesten Frankreichs. Und hier wird dieses Buch zur Erinnerungsarbeit einer Europäerin: Schwarz' Großvater mütterlicherseits war ein kleiner Gendarm im Vichy-Regime. Laut den Erzählungen der Familie stand er an der Demarkationslinie zwischen der besetzten und der sogenannten freien Zone. Viele Verfolgte versuchten über diese Binnengrenze den Nazis zu entwischen.

"Bei dem wenigen, was ich von ihm in Erinnerung habe, neige ich dazu, ihm glauben zu wollen."

Schwarz weiß nicht, ob und inwieweit ihr Großvater kollaboriert hat. Die meisten der 76 000 Juden, die auf dem Gebiet des Vichy-Regimes deportiert wurden, hat die französische Gendarmerie und Polizei festgenommen. Immer wieder haben die Behörden eilfertig mehr Juden ausgeliefert, als die Deutschen verlangt hatten. Dies ist die französische Kollaborationsschande, die nie wirklich aufgearbeitet, sondern jahrzehntelang beschwiegen wurde. Schwarz' Großvater erzählte wohl nach dem Krieg, er habe immer wieder ein Auge zugedrückt. Schwarz schreibt: "Bei dem wenigen, was ich von ihm in Erinnerung habe, neige ich dazu, ihm glauben zu wollen." Der Satz zeigt in seiner dezenten Skepsis, worin eine der Stärken dieser Autorin liegt.

Es gibt in der Folge einen deutschen und einen französischen Erzählstrang, die bis in die Jetztzeit führen. Schwarz erklärt, wie unterschiedlich in den westlichen Besatzungszonen nach 1945 die Entnazifizierung betrieben wurde (von den Franzosen im Grunde gar nicht). Die bleiernen Jahre der deutschen Nachkriegszeit; das Gemauschel auf französischer Seite, die zwar einige Hauptverantwortliche für die Kollaboration zur Rechenschaft zog, ansonsten aber am kollektiven Widerstandsmärchen zimmerte und - das Äquivalent zur deutschen Schlussstrich-Rhetorik war die désépuration, die Entsäuberung also - die meisten Beamten des Vichy-Regimes möglichst bald wieder in Amt und Würden holte.

Schwarz, die beide Schul- und Unisysteme kennengelernt hat, singt ein Loblied auf die deutsche Erinnerungskultur, die dank der Auschwitzprozesse und des soziokulturellen Wandels der Sechzigerjahre möglich wurde, und zeigt, wie mittlerweile auch in Frankreich anders mit der Geschichte umgegangen wird, etwa im Gedenkmuseum von Camp des Milles, "das die Frage des 'Was?' auf die des 'Wie?' erweitert hat, indem es einen Schwerpunkt auf die Untersuchung der psychologischen und sozialpsychologischen Mechanismen legt, die Einzelne und eine Gesellschaft insgesamt zu solchen Verbrechen bewegen können".

Zuletzt weitet sie ihren Blick auf Österreich und Italien und den jeweils dürftigen Umgang mit der eigenen Geschichte, um ihre These zu untermauern, dass die Parolen des Rechtspopulismus besseren Nährboden im dunklen Schweigen finden, wenn die Auseinandersetzung mit der Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen spät oder so gut wie gar nicht stattgefunden hat. Die Wahlerfolge der FPÖ und des Geschichtsrevisionisten Matteo Salvini geben ihr leider recht. Und so kann man den anfangs befremdlich wirkenden Untertitel dieses lehrreichen und hervorragend komponierten Buches am Ende als Menetekel lesen: Hier erinnert sich eine emphatische Europäerin an eine Epoche der Offenheit und Aufklärung, die gerade zu Ende zu gehen droht.

Géraldine Schwarz: Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession-Verlag, Zürich 2018. 445 Seiten, 25 Euro.

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