Parteitag der Grünen:Mit Wucht für Europa

Lesezeit: 3 min

  • Die Grünen wählen Sven Giegold auf ihrem Parteitag in Leipzig mit 97,9 Prozent der Stimmen zum Spitzenkandidaten für die Europawahl 2019.
  • Als zweite Spitzenkandidatin wird Ska Keller gewählt, die seit drei Jahren die Grünen-Fraktion im EU-Parlament führt.
  • Für seine von Europa überzeugte, aber pragmatische politische Haltung bekommt Giegold großen Applaus von den Delegierten.

Von Stefan Braun, Leipzig

Am Ende kommt etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte. Sven Giegold ist zwar schon eine ganze Weile bei den Grünen. Aber so was ist ihm bisher nicht vorgekommen. 97,9 Prozent der Delegierten haben ihm für die Spitzenkandidatur ihre Stimme gegeben. Das ist so viel mehr als der 48-jährige erwartet hatte, dass er jetzt auf der Bühne nicht mehr weiß, wo er hin soll mit seinen Händen.

Die Delegierten jubeln, weil Giegold sie mit seiner Leidenschaft von den Stühlen geholt hat. Also geben sie ihm was zurück, nicht nur in Form sehr vieler Stimmen. Wenn die Umfragen gut sind und die Stimmung untereinander friedlich, dann kann ein Parteitag auch mal langweilig werden. Das erleben an diesem Wochenende rund 800 Delegierte in Leipzig. Giegold aber zeigt Energie und verschenkt sie weiter.

Seine Bewerbungsrede als Spitzenkandidat für die Europawahl im Mai 2019 dauert nur gut zwölf Minuten. Aber die nutzt Giegold, um seine ganze Leidenschaft auf die Bühne zu tragen. Das macht er nicht mit ein paar Floskeln; der Finanzexperte wird schnell ziemlich präzise. Und er benennt das Besondere, das er mit dem EU-Parlament und mit Europa verbindet. In Straßburg, so Giegold, erlebe man es jeden Tag, wie unterschiedlich noch immer die Sicht auf dieses Europa ausfällt. "Das Europaparlament ist ein großartiger Ort, weil man dort aus der nationalen Echokammer herausgeholt wird."

So lerne man schnell, wie anders die Welt jenseits von Deutschland erlebt werde. In Deutschland werde Europa oft nach dem Motto wahrgenommen: "Deutschland zahlt und alle anderen halten sich nicht an die Regeln." Im Rest Europas höre er oft das Gegenteil: "Alle gehören zu Europa - und Deutschland profitiert zuerst."

Beides, sagt Giegold, sei in den Köpfen weit verbreitet - und beides sei falsch. Tatsächlich machten alle jeden Tag für Europa Kompromisse, und zwar zum gemeinsamen Glücke. Denn: "Ohne Europa stünden wir alle ungleich schlechter da."

Träumer, aber auch Pragmatiker: Der frisch gewählte EU-Spitzenkandidat der Grünen Sven Giegold. (Foto: Getty Images)

Giegolds wichtigster Punkt ist sein Blick auf das ganz reale Europa. Er verherrlicht nichts, aber er warnt davor, einem weit verbreiteten, aber gefährlichen Reflex zu erliegen. "Man kann Europa nur verteidigen, wenn man es nicht erst mal schlecht redet." Deutschland sei nicht Opfer, sondern größter Gewinner der europäischen Einigung. Deshalb werde er gegen alle kämpfen, die das Gegenteil behaupten.

Die Leute spüren, dass es Giegold besonders ernst ist mit Europa

Und der Parteitag? Er jubelt. Was durchaus bemerkenswert ist, weil die Grünen zwar gerne pathetisch sind, aber selbst dazu neigen, den großen Brüsseler Apparat kritisch zu beäugen. Giegold greift noch gar nicht zum besten Mittel, er spricht noch nicht über seinen Kampf gegen steuerflüchtige Internet-Giganten oder das Alltagsgift, das Chemiekonzerne bis heute in die Umwelt abgeben. Trotzdem ist der Parteitag glücklich. Sein Elan überträgt sich. Alles, was er sagt, erntet großen Applaus, weil die Leute spüren, dass es ihm besonders ernst ist.

Dabei setzt Giegold auch hier nicht nur auf kämpferische Parolen, sondern verteidigt eine ureuropäische Zwangsläufigkeit: dass man auch in diesen Kämpfen nur mit Kompromissen voran kommt. Er sei und bleibe immer ein Träumer, aber "im Machen bin ich immer ein Realist." Und das bedeute: "Kompromisse sind kein Verrat, sondern ein Zweck zur Erreichung unserer grünen Ziele." Pragmatischer geht es kaum - und wieder will der Applaus kaum enden.

Am Ende steht Giegold fast ein bisschen beschämt auf der Bühne und wirkt beinahe unbeholfen, als Parteichef Robert Habeck ihm aus dem Publikum eine Europa-Fahne angelt. Für einen Moment ist da nichts inszeniert - kein schlechter Augenblick auf diesem Parteitag.

Als zweite Spitzenkandidatin wird Ska Keller gewählt. Die 36-Jährige, die seit drei Jahren die Grünen-Fraktion im EU-Parlament führt, schafft es nicht, die gleiche Wucht auf die Bühne zu bringen. Sie wirbt mit Sätzen für sich wie: "Wir haben nur diesen einen Planeten - schützen wir ihn." Oder dem Appell: "Europa kann mehr, wenn wir uns nicht einschüchtern lassen."

Am Ende erhält Keller, die wie Giegold ohne Gegenkandidatin angetreten ist, 87 Prozent der Delegiertenstimmen. Das sind gut zehn Prozent weniger, aber es reicht trotzdem locker, um zum Abschluss mit Giegold fahneschwenkend ins Publikum zu winken.

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