Kunst:Immer noch etwas mehr Ketchup

Das Whitney Museum in New York zeigt die erste Werkschau zu Andy Warhol in den USA seit 30 Jahren. Seine Bilder sind zwar fit für das 20. Jahrhundert, wirken aber blass. Dafür gibt es erstaunliche Skulpturen.

Von Jan Kedves

Mit welcher Erwartung tritt man heute vor einen Warhol? Dass man ganz ehrfürchtig wird? Dass man, wenn man nah davor steht, noch irgendetwas im Werk entdecken wird, das man nicht vorher schon gesehen, gewusst, geahnt hätte? Dass das Bild noch stinkt? Nein, der Warhol stinkt natürlich nicht mehr. Auch nicht das "Oxidation Painting" von 1978, das jetzt, zwei Meter hoch und fünf Meter lang, im Whitney Museum in New York, der wichtigsten Institution für US-amerikanische Kunst, hängt. Warhol hat auf die mit Kupferpigmenten bestrichene Leinwand draufgepinkelt, der Urin brachte das Metall grünlich zum Oxidieren. Ein fortlaufender Prozess, wie sich in der Ausstellung "Andy Warhol - From A to B and Back Again" nun zeigt. Auf der siebten Documenta, 1982, sahen die "piss paintings" noch frisch und expressiv aus, das Kupfer hatte an den Stellen, die von Andys Strahl verschont geblieben waren, noch Glanz. Jetzt ist alles deutlich matter.

Warhols Urin wirkt also noch, auch 31 Jahre nach seinem Tod: Das ist die eine Erkenntnis, die man sich in der ersten Retrospektive abholen kann, die dem Künstler in seiner Heimat seit fast 30 Jahren wieder gewidmet wird und die längst nicht nur dort wieder eine regelrechte Warhol-Manie auslöst. Die interessantere Erkenntnis ist aber, dass Warhols Screenprints, wenn man direkt vor ihnen steht, auch in der Masse keine größere Ehrfurcht mehr erzeugen als auf Instagram. Warhol war saugut darin, ikonischen Bildern seinen eigenen superikonischen Warhol-Pop-Spin zu verpassen; wenn man so will, dachte er so zu analogen Bedingungen die heutige digitale Viralität schon voraus. Elvis, Marilyn und die Suppendosen funktionieren genauso gut auf T-Shirts wie auf Plakaten, besonders auf Bildschirmen, im miniaturisierten Thumbnail- oder im aufgeblasenen Widescreen-Format, in echt oder in fake. Während die aktuelle Calvin-Klein-Kollektion mit Genehmigung der Warhol Foundation mit Motiven aus Andy Warhols Archiv bedruckt ist - eine unkitschige, erstaunlich attraktive Version von Americana für 2018 -, hängt halb New York gerade voll mit Plakaten, auf denen ein Tribute-Konzert für den verstorbenen Grunge-Sänger Chris Cornell beworben wird: dessen schwarz-weißes Konterfei im Marilyn-und-Elvis-Stil, eingefärbt in Rot und Türkis. So sieht heute fast die ganze Welt aus.

Erstaunlich: Der Warhol-Look wirkt nicht überholt, die Originale sind aber wenig aufschlussreich

Die Warhol-Ikonografie, oder auch einfach der Warhol-Look, wirken nicht überholt, das ist erstaunlich und spricht wohl für Warhol. Wobei die Vergewisserung, dass es zu all diesem ästhetischen Allgemeinwissen, zu den Tausenden Spin-offs und Zitaten, in den gut bewachten Kunstdepots und Wohnzimmern der Superreichen tatsächlich noch die Original-Leinwände gibt, dann erstaunlich wenig im Betrachter auslöst. Das Whitney Museum hat 350 Exponate versammelt, und es ist egal, ob man eine Sekunde oder zehn Minuten vor so einer Leinwand steht. Warhol, okay, kapiert. Mit dem Effekt, dass man in einer Viertelstunde durch sein kann. Bisschen wenig für 25 Dollar Eintritt?

Man sucht deswegen noch nach einem Mehrwert, den man in New York "bang for the buck" nennt - und findet ihn vielleicht in der Erkenntnis, dass Warhol sich in der Factory auch an Skulpturen versucht hat. Da steht "Mylar and Plexiglas construction", ein schrankhoher, durchsichtiger Kasten, in den untereinander Rollen mit Mylar, also Polyester-Folie, eingehängt sind. Sie sind verschiedenfarbig metallisiert, Pink, Lila, Flieder. Das Ganze sieht aus wie eine viel zu große Geschenkpapier-Abwickel-Vorrichtung, die man im Weihnachtsgeschäft als Deko ins Schaufenster stellen wollte. Aha, so etwas hat Warhol also auch gemacht? Etwas praller und kitschiger, und das Ganze hätte auch von Jeff Koons sein können, aber das käme vom Timing nicht hin, der hat ja erst Ende der Siebzigerjahre angefangen.

Jetzt, in Trumps Amerika, erscheinen einige seiner Werke widerständig, direkt politisch

Im Wandtext wird "Mylar and Plexiglas construction" auf "circa 1970" datiert. Komisch, dass man bei Warhol, der sich selbst und seinen Alltag so akribisch dokumentiert hat, ein Datum nicht genauer bestimmen kann. Und bei einem kunsthistorisch so ausgedeuteten Künstler wie Warhol kann der Wandtext auch nicht genauer erklären, "aus welchem Grund auch immer er diesen Modus der künstlerischen Produktion", gemeint ist die Bildhauerei, "nicht weiter verfolgt hat". Andy Warhol und seine letzten Geheimnisse. Oder wie wäre es mit: Er hat gemerkt, dass Skulpturen eben nicht so ikonisch, dafür aber viel aufwendiger zu produzieren sind?

Die zweite Skulptur, "Large Sleep" von 1965, ist dann jedenfalls sehr stark an Marcel Duchamps "Großes Glas" angelehnt, mit dem Unterschied, dass das Glas hier kein Glas ist, sondern wieder Plexiglas. Und mit dem weiteren Unterschied, dass die neuvermählte Braut aus der Junggesellenmaschine (wie Duchamps "Großes Glas" auch genannt wird) ersetzt ist durch einen schwulen schlafenden Jungen aus der Factory, einem John Giorno. Er war damals Warhols Liebhaber. Giornos schlafendes Antlitz ist auf beide Teile der senkrechten Plexiglasplatte gedruckt.

Man könnte das eine schmunzelnde Verschwulung von Duchamp nennen. Was gut dazu passen würde, dass der Wandtext zum eingangs erwähnten "Oxidation Painting" vorschlägt, dieses "Pissbild" als "queere Parodie des Machismo von Jackson Pollock und seines kanonischen Abstrakten Expressionismus" zu lesen. Wie politisch oder schwulenemanzipativ oder vielleicht sogar bürgerrechtlerisch waren Warhols Kommentare auf den Kunstkanon des 20. Jahrhunderts? Politisches Bewusstsein und Warhol, das bringt man ja eigentlich gar nicht zusammen. Der Mann hatte seine Blasiertheit gut einstudiert, er beantwortete in Interviews jede Frage mit "Yes" und erzählte beinahe stolz, er habe in seinem Leben nur ein einziges Mal versucht zu wählen (ohne sich für einen Kandidaten entscheiden zu können). Warhol war jemand, der im Zweifel - oder zur Ablenkung? - immer noch etwas mehr Ketchup auf seinen Burger drückte.

Aber jetzt, im Jahr 2018, in Trump-Amerika, erscheinen einige seiner Werke doch erstaunlich widerständig, direkt, politisch. Am meisten wohl das Siebdruck-Porträt der grinsenden, ihren Diva-Moment offenbar sehr genießenden Marsha P. Johnson. Die schwarze Transfrau ging in die Geschichte New Yorks ein als eine derjenigen Personen, die im Juni 1969 in der Christopher Street in Manhattan als erste auf die Barrikaden gingen, als die Polizei mal wieder eine Razzia in der queeren Bar Stonewall Inn machte. Die Geburtsstunde der modernen LGBT-Bewegung und der jährlichen Christopher Street Days.

Das Porträt von Marsha P. Johnson hängt in "Andy Warhol - From A to B and Back Again" neben Marilyn und Elvis, in diesem Megabau, an dessen Außenwand in goldenen Lettern groß die Namen Dan und Pamella G. DeVos prangen. Sie gehören zu den großzügigsten Unterstützern des Whitney Museums und zum DeVos-Clan, der unter anderem gerade die höchst umstrittene Bildungsministerin Betsy DeVos stellt. Die DeVos-Familie hat mit Hunderten Millionen Dollar die Republikaner unterstützt. Mit dem Ergebnis, dass die Trump-Regierung jetzt eben am Drücker ist - und unter anderem die Rechte für Transmenschen wieder abschaffen will. In Zukunft sollen, so der Plan, in den USA wieder allein die biologischen Geschlechtsmerkmale über Identität und Geschlechtsangabe im Pass entscheiden. Ein Rollback, der, soviel ist sicher, Menschenleben fordern und im Rückspiegel der Geschichte alt aussehen wird. Anders als Warhol - mit dem man sich auch in erzkonservativen Kreisen gerne schmückt.

Wie sagt man so schön im Englischen? "You can't have your cake and eat it too", man kann den Kuchen nicht gleichzeitig essen und behalten. Warhol als nationalen Künstler feiern zu wollen und gleichzeitig Transsexuellen das Leben wieder zur Hölle zu machen - das passt nicht zusammen. Nicht mal mit viel Ketchup.

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