"Assassination Nation" im Kino:Vier Mädchen gegen den Rest der Welt

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Vier High-School-Schülerinnen kämpfen in „Assassination Nation“ gegen eine männliche Bürgerwehr. (Foto: Verleih)
  • Nach der Premiere von "Assassination Nation" beim Sundance Filmfestival ging ein Riss quer durch Kritiker und Publikum: von der Hymne bis zum Totalverriss war das ganze Spektrum vorhanden.
  • Diese Ambivalenz hat wohl damit zu tun, dass in diesem Film mächtige Männer zu Unrecht zu Fall gebracht werden.
  • Doch trotz der weiblichen Ermächtigungsfantasien ist "Assassination Nation" kein feministischer Film.

Von Nicolas Freund

Als Erstes erwischt es den Bürgermeister. Im Internet tauchen Bilder auf, die ihn in Frauenunterwäsche und in Gesellschaft anderer, nackter Männer zeigen. In Rekordzeit haben die Bilder Millionen Aufrufe. Als hätten alle nur darauf gewartet, einen Riss in der Fassade des Politikers zu finden. Besonders verfänglich sind diese Bilder, weil Mayor Bartlett sonst für seine Homophobie bekannt ist. Jetzt wissen alle: Nicht nur ist der Bürgermeister des kleinen, konservativen amerikanischen Städtchens Salem heimlich homosexuell, er ist auch ein Heuchler. Lily Colson und ihre Teeniefreundinnen Sarah, Bex und Em von der örtlichen High School, deren Sozialleben sich zu großen Teilen auf Whatsapp abspielt und die einen solchen Skandal nicht unkommentiert vorbeiziehen lassen, weisen noch altklug darauf hin, dass Männer ja immer so einen schlechten Geschmack bei Damenunterwäsche hätten.

Die Empörung ist die Emotion der Stunde. Und "Assassination Nation" ist ein Film über die hemmungslose Art der Empörung, deren Ziel es nicht ist, auf Fehlverhalten aufmerksam zu machen, sondern vor allem, sich selbst im Kontrast zu den Verfehlungen anderer glänzen zu lassen. Denn Mayor Bartlett hat sich keines Verbrechens schuldig gemacht, aber das Urteil über ihn ist dennoch gefällt, das Datenleck ist wie ein Todesurteil. Wie in einem Dokumentarfilm folgt die Kamera dem Bürgermeister ganz nah an seinem Hinterkopf durch die engen Gänge auf die Bühne, wo er sich seinen Richtern, den Bürgern seiner Stadt, stellen muss.

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"Assassination Nation" ist auch ein Film über Spaltung. Nach der Premiere beim Sundance Filmfestival ging der Riss quer durch Kritiker und Publikum. Selten hat ein Film die Bandbreite der Bewertungsskalen so ausgenutzt wie dieser. Von der Hymne bis zum Totalverriss ist das ganze Spektrum vorhanden. Diese Ambivalenz hat zunächst sicher damit zu tun, dass in diesem Film mächtige Männer zu Unrecht zu Fall gebracht werden. Nach dem Sturz des Bürgermeisters folgt der Schuldirektor. Auch seine Handydaten landen als zweiter Aufschlag der Salem-Leaks im Internet, darunter Fotos von seiner kleinen Tochter in der Badewanne. Die (Netz-)Gemeinde spinnt daraus sofort den Vorwurf der Pädophilie, und die Fronten in dem Städtchen werden neu gezogen. Der Direktor ist das neue Opfer, und fast alle versammeln sich wieder auf der Gegenseite. Nur Lily Cole stellt beim Familienessen die These auf, dass ja nichts daran sei, wenn ein Vater Bilder von seiner Tochter auf dem Handy speichert - selbst wenn sie das Kind beim Baden zeigen. Ihre eigenen Eltern sehen das anders.

Feministisch ist der Film nicht, dafür sieht man die Mädchen zu oft in Unterwäsche

Lily und ihre Freunde sind mehr im Internet als in Salem zu Hause. Regisseur Sam Levinson inszeniert die Mädchen und die anderen High-School-Kids in grellen Farben und in Splitscreens, als gäbe es noch Musikvideos. Im Leben dieser Mädchen passiert alles gleichzeitig, Punchlines und Trash-Talk fliegen schneller hin und her als die Kurznachrichten und Emojis. LGBTQIAA sprechen sie so schnell aus, als sei es ein Wort. Lily flirtet heftig mit einem älteren Mann, dessen Kontakt sie kokett als "Daddy" gespeichert hat. Sie hat die gleiche Sonnenbrille in Herzchenform wie Sue Lyon in Stanley Kubricks Verfilmung von "Lolita". Sie kann spontan Vorträge darüber halten, wie man die kleinen Schwächen des eigenen Körpers für ein Nacktfoto mit Licht und Posen am besten kaschiert. Die makellosen Bilder auf Instagram machen es vor, und der Film leiht sich die Künstlichkeit der Selfies und die atemlose Hektik der sozialen Netzwerke für sein ästhetisches Konzept. Gerade in dieser digitalen Künstlichkeit kommt der Film nah heran an seine Figuren.

Diese Unmittelbarkeit lässt Levinson im zweiten Teil ins Horrorgenre kippen, als die Mädchen ins Visier einer Bürgerwehr geraten. Der Hacker hat nicht bei den mächtigen Männern haltgemacht, sondern veröffentlicht jetzt alles über jeden im Internet, und der Verdacht, für die Leaks verantwortlich zu sein, fällt auf die Mädchenclique. Weil auch Lilys Chat mit "Daddy" und die Nacktfotos bekannt geworden sind, ist sie ohnehin Freiwild für viele der Männer in Salem. Und die wollen Blut sehen. Nur unterschätzt diese männliche Bürgerwehr die vier Mädels. Es gibt sehr viele Waffen in den Vereinigten Staaten.

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Salem ist der Name der Stadt, in der im 17. Jahrhundert die berüchtigten Hexenprozesse stattfanden. Arthur Miller hat daraus 1953 das Theaterstück "Hexenjagd" gemacht über die Kommunistenhetze der McCarthy-Ära. In "Assassination Nation" zeigt sich diese Dynamik im Geschlechterverhältnis. So detailliert die Teeniemädchen dargestellt werden, so einfach gestrickt sind die High-School-Jungs fast durchweg als sexistische, notgeile Sportler. Das funktioniert und genügt für das Argument des Films, denn es geht hier um eine Form der Männlichkeit, die sich aus der Bestätigung durch Frauen speist und die in eine gekränkte Aggressivität umschlägt, wenn sie infrage gestellt wird. Diese Männer sind die Melancholiker des 21. Jahrhunderts, in sich selbst vor der Welt gefangen. Ganz ähnliches zeigt sich in den grellen Internetwelten der Mädchen und ihrer verzweifelten Sehnsucht nach Bestätigung, mit der sie den scheinbar unüberbrückbar fernen Jungs doch sehr gleichen.

Der Film beschränkt sich aber nicht auf die Geschlechterfrage. Trotz der weiblichen Ermächtigungsfantasien ist "Assassination Nation" kein feministischer Film. Dafür zeigt er seine Hauptdarstellerinnen zu oft in Unterwäsche, lässt sie zu viel über Sex debattieren und hat zu viel Spaß an seiner überzeichneten Inszenierung. Seine Exploitation-Programmatik möchte er nicht der politischen Korrektheit opfern. Deshalb geht es auch nicht nur um den Geschlechterkampf, in dem sich diese vier Mädchen mit Waffengewalt gegen die männliche Bürgerwehr verteidigen, sondern darum, wie Gewalt entsteht. Der Film zeigt, wie ein oppositionelles Verhältnis, zwischen Männern und Frauen, Jung und Alt, Schwarz und Weiß, in Gewalt kippen kann, sobald kein Gleichgewicht mehr herrscht, sondern ein Machtgefälle. Ohne dabei die kritisierten Muster zu reproduzieren gelingt ihm das, indem er die Unterschiede nicht aufhebt, aber so überzeichnet, dass sie als das erscheinen, was sie sind: reine Oberfläche.

Assassination Nation , USA 2018 - Regie, Buch: Sam Levinson. Mit: Odessa Young, Hari Nef, Suki Waterhouse. Universum, 108 Minuten.

© SZ vom 20.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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