Ukraine:Die Eskalation kommt Putin und Poroschenko nicht ungelegen

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Die Protagonisten im Streit zwischen der Ukraine und Russland: Petro Poroschenko und Wladimir Putin. (Archivbild) (Foto: picture alliance / dpa)

Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nützt den Mächtigen auf beiden Seiten. Das macht den unerklärten Krieg mitten in Europa so gefährlich.

Kommentar von Silke Bigalke

Wenn zwei Schiffe aufeinander zuhalten, stoßen sie irgendwann unausweichlich zusammen. Das größere Schiff, das russische, hat das kleinere Schiff aus der Ukraine weggerammt. Es gibt sogar ein Video davon, das macht es noch anschaulicher. Russische Grenzschützer haben ukrainische Marinesoldaten angegriffen, es sollen Schüsse gefallen sein, es gab Verletzte. Es war der erste gewaltsame Zusammenstoß zwischen der Ukraine und Russland. Oder besser gesagt: der erste, in dem sich Russland so offen als Aggressor zeigt.

Dabei wird nun lediglich sichtbar, was seit Langem absehbar war. Seit Wochen haben EU und Nato vor einem offenen Konflikt am Asowschen Meer gewarnt. Nun ist es so gekommen, und die Reaktionen aus Kiew und Moskau lassen vermuten, dass beide Seiten zuvor wenig unternommen haben, um den Zusammenstoß zu vermeiden. Diese Schiffe sind seit Längerem und mit voller Absicht aufeinander zugesteuert.

Kiew und Moskau kommt die Eskalation ganz gelegen, um sie innenpolitisch auszuschlachten

Der Ort des Aufpralls spielt auch eine Rolle. Die Meerenge, die die Ukrainer passieren wollten, liegt zwischen der Krim und Russland; das kleine Asowsche Meer, in das sie gelangen wollten, im größten Spannungsfeld Europas: zwischen Russland und der Ukraine, an den Ufern die Krim und die umkämpften Gebiete der Ostukraine. Lange teilten sich die Ukraine und Russland die Kontrolle; Schritt um Schritt beschnitt Russland auch hier die Souveränität der Ukraine. Russland hat eine Brücke über die Meerenge gebaut und damit quasi ein Tor vor das Asowsche Meer gesetzt, über das Moskau allein die Kontrolle hat. Dort hält es ukrainische Schiffe fest, mit zermürbenden Kontrollen und Schikanen, und hungert die ukrainischen Häfen hinter diesem Tor wirtschaftlich aus.

In diesem Meer also, das ein bisschen kleiner ist als die Niederlande, zirkeln die Schiffe des russischen Grenzschutzes und die paar Boote, die der ukrainischen Marine nach der Krim-Annexion geblieben sind, umeinander herum. Alles stand dort bereit zur Eskalation, zu der es dann am Sonntag kam. Beide Seiten werfen nun einander vor, auf den Auslöser gedrückt zu haben. Auf beiden Seiten sitzen Regierungen, denen der Zeitpunkt der Eskalation offenbar nicht ungelegen kommt. Die Mächtigen in Kiew wie in Moskau können sie innenpolitisch bestens nutzen.

In Kiew will Petro Poroschenko, anders als bei früheren Übergriffen, dieses Mal dafür sorgen, dass das ukrainische Parlament das Kriegsrecht ausruft. Die nächsten Wahlen könnten schlecht für ihn ausgehen, da ist es nur gut für ihn, dass er sie nun mit der nötigen patriotisch überhöhten Dramatik verschieben kann. Auch Wladimir Putin in Moskau kommt die Ablenkung gelegen. Gäbe es jetzt Wahlen, würden laut Umfragen nur noch 56 Prozent für ihn stimmen - so wenig waren es seit der Annexion der Krim nicht mehr. Die heißt in Russland "Anschluss", und für alles, was Putin dort tut, erhält er viel mehr Zuspruch als für die schwierigen innenpolitischen Reformen. Dafür riskiert der russische Präsident auch ein immer schlechteres Verhältnis zum Westen. Es bringt ja auch Wählerstimmen, die Nato als aggressiv und die EU als handlungsunfähig darzustellen.

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Die Abgeordneten folgen damit dem Antrag von Präsident Poroschenko. Die Regierung in Kiew wirft Russland vor, drei ihrer Marineschiffe beschossen und gekapert zu haben.

Deren Warnungen vor einem offenen Konflikt am Asowschen Meer wirken nicht. Die Stellungnahmen der EU erwecken den Anschein, als sei in der Region nun der Frieden bedroht, als gäbe es also keinen Konflikt, der bis an die Ufer dieses Meeres reicht, der ganz in der Nähe jener ukrainischen Häfen geführt wird, zu denen nun kaum noch Schiffe vordringen. Doch es herrscht seit fünf Jahren Krieg mitten in Europa. Und jeder weiß, dass sich Russland daran verdeckt beteiligt. Jede Warnung vor einem "offenen Konflikt" wirkt dadurch doppelt hilflos. Um einen falschen Frieden zu bewahren nennt sie den Krieg, der geführt wird, nicht Krieg.

Zum ersten Mal haben nun also russische Soldaten offen und für jeden erkennbar ukrainische angegriffen. Wenn Moskau diesen unverdeckten Zusammenprall riskiert, dann sicher auch deswegen, weil es Kiew in diesem Fall daran die Schuld geben kann. Die russische Küstenwache wirft den drei festgesetzten ukrainischen Schiffen vor, dass sie die russische Grenze verletzt hätten. Und argumentiert damit, dass es seine Brücke über die Meerenge schützen muss. Eine Brücke wohlgemerkt, mit deren Bau Russland zuallererst die Souveränität der Ukraine verletzt hat, und für die es weitere Sanktionen in Kauf genommen hat.

Andersherum argumentiert in Kiew Petro Poroschenko nun mit Selbstverteidigung, wenn er das erste Mal seit Beginn der Krimkrise das Kriegsrecht ausruft. Ohne zu erklären, wie das den Ukrainern helfen oder sie sicherer machen soll. Was kann man tun, wenn zwei Schiffe aufeinander zusteuern und für alle Warnungen taub sind? Nicht blind, immerhin, denn beide Seiten sprechen ja von einer gefährlichen Situation. Bleibt zu hoffen, dass sie doch noch abdrehen.

© SZ vom 27.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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