Pressekonferenz: Günter Wallraff:Mann im Ganzkörperseinsatz

Hinter all den Verkleidungen und falschen Identitäten steckt unter all den Schnurrbärten und Perücken, die sich Günter Wallraff anlegte, steckt nicht die Stasi, sondern ein extrem leidensbereiter Mensch.

WILLI WINKLER

Vielleicht hilft es, wenn wir uns Günter Wallraff als katholischen Schriftsteller vorstellen. Wenn einer aus Köln kommt und in Köln immer geblieben ist, in der Stadt des marianisch-pekuniär-karnevalesken Dauergeklüngels, muss er mit einer ähnlich eisernen, nämlich katholisch-masochistischen Konstitution begabt sein wie der Kölner Nobelpreisträger Heinrich Böll. Wallraff, zeitweise Bölls Schwiegersohn, hat natürlich irgendwann seinen Glauben verloren, er ist beizeiten aus der Kirche ausgetreten, aber selbst bei der Stasi machte er sich auffällig, weil er "vom marxistisch-leninistischen Weltbild nicht zu überzeugen" war und "Anhänger der katholischen Soziallehre" blieb.

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(Foto: Foto: AP)

Sei es die oder ein naturwüchsiger, kölscher Masochismus, jedenfalls steht hinter all den Verkleidungen und falschen Identitäten, steckt unter all den Schnurrbärten und Perücken nicht die Stasi, sondern ein extrem leidensbereiter Mensch. Der Bundeswehr entkam er durch die Psychiatrie, der immer wohlständigeren Gegenwart durch einen immer erneuerten Abstieg nach unten. Von dort wühlte Wallraff gegen die Bundesrepublik, gegen Thyssen, Gerling, Bild. Dass ihn Franz Josef Strauß einen "Untergrundkommunisten" nannte, musste Wallraff wie ein Ehrentitel vorkommen.

Wallraffs Reportagen aus dem Alltag einer nur halbwegs fortgeschrittenen Bundesrepublik berichteten von gruseligen Expeditionen in frühkapitalistische Ausbeutungs- und Machtverhältnisse. Damit wurde er das Idol der weniger Mutigen, weil er sich einfach mehr traute. Nach "Ganz unten" hatte sich sonst keiner gewagt. Das war Ganzkörpereinsatz, wie man das sonst nur von Boxern kannte oder von Ausnahmesportlern wie Boris Becker. Das war noch George Orwell auf dem "Weg nach Wigan Pier" oder der vielberufene Egon Erwin Kisch, der sich einschlich, um die Geheimnisse der Mächtigen ausplaudern zu können.

Wallraff sieht sich heute wieder von den alten Feinden umstellt, und es sind, in besseren Anzügen, mit Laptop und Handy, die gleichen wie früher: die Journalisten von der Springer-Presse. Nicht aus der Bild-Zeitung kommen diesmal die Angriffe, sondern aus der um Seriosität bemühten Welt. Sie haben dem Erzfeind lange nach dessen großen Reportagen zu einem späten Glorienschein verholfen, denn jetzt soll er endgültig als Stasi-Mann gegen die Bundesrepublik gewühlt haben.

Innerhalb einer einzigen Woche wurden in der Welt alle Batterien gegen den altenbösen Feind, die Linke, abgefeuert: Bettina Röhl enttarnt den überbeleumdeten Coiffeur Udo Walz als RAF-Sympathisanten, weil er ihrer Mutter Ulrike Meinhof 1971 eine "bürgerliche" Frisur geschnitten hat. Der Literaturredakteur Tilman Krause nennt Adorno wegen dessen "Invektiven gegen das Besitz- und Bildungsbürgertum" ein "ungeheures Verhängnis?". Er habe mitgeholfen, dass die ganze Kultur "verpestet, ja, verpestet" worden sei. Und Günter Wallraff war natürlich Stasi-IM.

Das sind, wie Wallraff sagt, ganz "alte Kamellen". Vor allem wird ein alter Klassenkampf von einer neuen Generation nachgespielt. Die Verhältnisse haben sich, und nicht zuletzt wegen Wallraffs masochistischer Wühlarbeit, erheblich verbessert. Die Bundesrepublik leidet nicht mehr unter Ausbeutung, sondern unter Arbeitslosigkeit. Die Vergangenheit ist gründlich bewältigt, und sei es, weil die alten Verbrecher einfach weggestorben sind. Eine datenmäßige Totalerfassung wie in der Gauck- oder Birthler-Behörde gab es für sie nicht. Es waren einsame Rächer, Leute wie Simon Wiesenthal, Beate Klarsfeld und Günter Wallraff, die im selbstgestellten Auftrag die Vergangenheit erhellen wollten. Journalistisch ist da nichts mehr zu gewinnen, aber warum nicht die Linken entgelten lassen, was man an den alten Nazis versäumt hat?

Wallraff war nicht nur jener "Hans Esser", der den Boulevardjournalismus von Bild als systematisches Vergehen gegen die Wahrheit entlarvte. Nein, der IM Wagner war ein ausgesuchtes Hassobjekt der bürgerlichen Eliten, nach denen sich Herr Krause heute so verzehrt, vor allem jener, die das Ende von 1945 kaum versehrt überstehen durften. Nach der Kapitulation vergingen fast zwei Jahrzehnte, ehe die Auschwitz-Prozesse endlich in Gang kamen.

Der Leiter der Gestapo im Warschauer Ghetto, ein besserer Herr namens Ludwig Hahn, durfte nach dem Krieg unbehelligt wirken, passenderweise als Generalvertreter einer Lebensversicherung. Er hatte zwar zweihunderttausend Juden auf dem Gewissen, aber auch den Nato-General Steinhoff zum Schwager. Wallraffs Recherchen über den Wachmann Joseph Bölsche, den die DDR anklagte und nicht die Bundesrepublik, sorgten schließlich für ein Gerichtsverfahren gegen Hahn und dessen Verurteilung. Die Akten dazu bekam Wallraff von der Hauptverwaltung X. Er will nichts von der Stasi gewusst haben, die sich nach der Aktenlage heute berühmen kann, ihn "instruiert" und geführt zu haben. Wer aber hätte sich der Sache sonst angenommen, wenn nicht Aufklärer wie Bernt Engelmann und Wallraff?

Aber Wallraff ist IM Wagner. Der Fall, der jetzt zum zweiten Mal aufgewärmt wird, ist in ungebührlicher Kürze dieser: 1971 traf sich der Schriftsteller in Kopenhagen mit einem Redakteur der Ostsee-Zeitung, der, ohne Wissen Wallraffs, als "IM Friedhelm" für die Stasi arbeitete. Man besprach, so Wallraff, Wallraff-Aufführungen und Wallraff-Veröffentlichungen in dieser Ostsee-Zeitung. Das Treffen wurde offensichtlich auch vom westdeutschen Geheimdienst überwacht, denn der Mann aus dem Osten wurde bei der Zwischenlandung in Hamburg festgenommen. Beim "IM Friedhelm" befand sich schlimmes, landesverräterisches Material, und die Bundesanwaltschaft hat es sorgfältig aufgelistet: offizielles Parteimaterial der DU, den Text einer Rede, Rundschreiben eines "Vereins zur Wiedereinführung der Todesstrafe" und dergleichen mehr.

1971 führten die USA Krieg gegen Vietnam, und die alten Eliten der Bundesrepublik unterstützten die europäischen Diktaturen in Spanien, Portugal, Griechenland und Südafrika. Wie aber soll man nach über dreißig Jahren diese Zusammenhänge erklären?

Wallraff erscheint am Montag zu einer Pressekonferenz im Kölner Mediapark, trägt eine Erklärung vor, in der er versichert, "bei meinen Kontakten zu Offiziellen der DDR niemals irgendwelche Verpflichtungen eingegangen" zu sein. Er bekennt sich nachträglich zu "Naivität und Leichtfertigkeit". Als sein Anwalt die Vorwürfe der Birthler-Behörde als "rechtlich unzulässig" zurückweist und eine Anzeige ankündigt, meldet sich Wallraff noch einmal. Die Behörde habe das "Recht, falsche Schlüsse zu ziehen". Er will keine Anzeige. Erschöpft, übernächtigt, überanstrengt, sagt er anschließend: "Sie können sich nicht vorstellen, wie's in mir drinnen aussieht." Während der Reporter noch auf einen Bericht von dort drinnen wartet, läuft Wallraff davon. Das muss das Katholische sein.

In seinem Büro hängt ein alter Cartoon. "Liebe Else!" beginnt der Brief, den eine schon angejahrte Frau im Ehebett findet, "liebe Else, ich geb's nun zu, ich bin Günter Wallraff", und als Günter Wallraff wollte dieser abtrünnige Ehemann den deutschen "Ehemief" ausspionieren. Eingang ins literarische Volksvermögen zu finden: mehr kann ein Schriftsteller zu Lebzeiten von seinem Leben eigentlich nicht verlangen. Das ist noch besser als Stasi.

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