Schweizer Crowdfunding-Projekt:Einsame Spitze

Nicht weniger als "das beste Sportmagazin der Welt" möchte "N°1" sein. Die Macher wollen "einen Standard setzen" - an dem sie sich kein zweites Mal messen lassen müssen. An diesem Montag erscheint die einzige Ausgabe.

Von Charlotte Theile

Wenn Christof Gertsch und Mikael Krogerus ihr Magazin beschreiben, reichen ihre Arme oft kaum aus. "So groß" sei das Heft, das an diesem Montag auf den Markt kommt - Gertsch malt ein gigantisches Viereck auf den Tisch - und "so schwer" - Gertsch bemüht sich, einen riesigen Ziegelstein aufzuheben. Es gelingt ihm, knapp. N°1, gesprochen "Nummer Eins", ist das Sportmagazin der Sportmagazine. Gut 200 Seiten lang, ein Kilogramm schwer und, wie sich das für Legenden gehört, einmalig.

Als Krogerus und Gertsch, beide arbeiten beim Magazin des Zürcher Tages-Anzeigers, vor zwei Jahren durch die Chefetagen des Landes zogen, um ihre Idee potenziellen Geldgebern und Unterstützern zu präsentieren, stießen sie auf fragende Gesichter. Ein Supermagazin? Für Sportgeschichten? Das auch dann noch lesenswert ist, wenn die Verletzungen verheilt sind, der Superstar zur Nummer 2578 der Weltrangliste abgestiegen und das Weltmeisterteam in Rente ist? Das klang überambitioniert - und verdammt teuer. Vor allem, wenn man nur eine einzige Ausgabe plant.

Doch auch wenn die Verantwortlichen in den Verlagen Bedenken hatten - die Idee faszinierte. "Fast alle Gespräche, die wir damals führten, endeten damit, dass uns einer der Manager eine Geschichte erzählte, die genau in unser Heft passen würde", erinnert sich Krogerus.

Und wie das so ist, wenn man eine Idee hat, aber kein Geld, um sie umzusetzen, versuchte sich N°1 am Crowdfunding. Ende November 2017 begann die Sammelaktion - schon nach wenigen Tagen erklärte das Team: "Wir sind überwältigt." Mehr als 2000 Menschen zahlten umgerechnet gut 100 000 Euro ein. Genug, um die Stars der Branche als Autoren zu verpflichten, und genug, um Grafiken, Fotos und Layout hochwertig aussehen zu lassen. Das eigentliche Ziel, 144 Seiten zu produzieren, die so schön verpackt sind, "dass man in dem Magazin wohnen will", haben Gertsch und Krogerus dagegen verfehlt: N°1 ist hübsch aufgemacht, aber auch mehr als 60 Seiten länger geraten. Ein weiterer Schönheitsfehler: Gratisarbeit. Gertsch und Krogerus konnten zwar fremde Autoren anständig bezahlen - sie selbst aber arbeiteten fast zwei Jahre lang ohne Lohn.

N°1

Ein Heft, viele ungewöhnliche Geschichten: Doppelseite aus N°1.

(Foto: N°1)

"Das beste Sportmagazin der Welt", wie es auf der Website heißt, ist also nur durch Selbstausbeutung zustande gekommen. "Ein sehr lustbetontes Produkt" nennen es die Gründer. Auch die Frage, mit der sie an Freunde, Kollegen und Sportler herangetreten sind, klingt wie der Traum jedes Journalisten: "Gibt es eine Geschichte, die du schon immer aufschreiben wolltest?"

Die Antwort lautete so oft "Ja, da hätte ich etwas", dass Gertsch und Krogerus einige Tage vor dem Erscheinen mit schwer zu versteckendem Stolz in der Stimme von ihren Luxusproblemen berichten: "Wir mussten vielen Leuten absagen, richtig guten Leuten", sagt Gertsch, "das war fast schon peinlich."

Die Texte, die es in das Sportmagazin geschafft haben, sind meistens ziemlich lang. Interviews, Reportagen und Essays, die erzählen, was Sport mit einem Körper, einer Familie, einer Nation anstellen kann. Es sind Geschichten, die entweder ganz nah rangehen, den Schmerz und die Euphorie, die ein Läufer während des Marathons empfindet, sezieren, einmal ganz grundsätzlich die Unterschiede zwischen Teamsport und Einzelsport erläutern oder beschreiben, was die "Me Too"-Bewegung im American Football verändert hat.

Dazwischen finden sich persönliche Texte: Snowboarderin Ursina Haller über das Ende ihrer Karriere; eine Schweizer Familie, in der alle drei Kinder Skifahrer wurden; Vater und Sohn, die sich vor allem beim Fußballschauen nahe kommen. Wer am Magazin mitgeschrieben hat, lobt Transparenz und gute Bezahlung, berichtet aber auch von einer Redaktion, die sich für das Liebhaberprojekt verausgabt habe.

Doch Gertsch und Krogerus sind nicht nur die Idealisten im Hintergrund, sondern tauchen auch als Autoren im Heft auf. Sich selbst genehmigen sie, was sonst verpönt war: einen Nachdruck. Die Reportage über Ben Johnson, 1988 Olympiasieger über 100 Meter, erschien im August bereits im Magazin des Tages-Anzeigers. Drei Tage nach dem Sieg wurde ihm die Goldmedaille wieder aberkannt. Bis heute hält sich das Gerücht, dass bei Johnson nach dem Rennen mit gepanschtem Bier zu einer positiven Dopingprobe nachgeholfen wurde. Der Text ist eine Reise in die Abgründe des Spitzensports.

N°1

„Gibt es eine Geschichte, die du schon immer aufschreiben wolltest?“, haben die N°1-Macher Kollegen gefragt. Die Antworten füllen 200 Seiten im per Crowdfunding finanzierten Heft.

(Foto: N°1)

Für Sportjournalisten sind es diese Recherchen, die zeigen, was die Disziplin kann, wenn man ihr Zeit und Raum lässt. Schon deshalb wird "der Ziegelstein" bald in vielen Regalen zu finden sein.

Anders als im Journalismus üblich, schreiben in diesem Heft auch die Akteure selbst. "Wir haben bewusst mit Sportlern zusammengearbeitet, ihnen die Möglichkeit gegeben, ihre Sicht der Dinge darzulegen", sagt Gertsch. Das sei gut angekommen: Aktive Sportler hätten sich am Crowdfunding beteiligt - dem offiziell einzigen Weg, einen der Ziegelsteine zu bekommen. In diesen Tagen wird das Magazin versendet. Die Auflage liegt bei nur knapp 10 000 Exemplaren. Das ist gewollt. Limited Edition, ein alter Trick.

Und jetzt? Was, wenn Sportler, Verleger und Leser nach einer Fortsetzung verlangen? Gertsch und Krogerus winken ab. Nachdruck sei ausgeschlossen, eine Nummer Zwei werde es erst recht nicht geben. Was man sich allerdings vorstellen könne: Podcasts, Veranstaltungen. Eigentlich aber wolle man mit dem Magazin, das, so heißt es auf der letzten Seite, auch zum Gewichtheben oder als Schneidebrett verwendet werden kann, "einen Standard setzen", sagt Krogerus. "Für mich ist N°1 ein Maßstab: Sollte ich je wieder ein Magazinprojekt machen, muss es mindestens so gut werden wie dieses Heft."

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