Aus dem Nachlass:Zwei Schritte zur Seite

"Randgebiete der Arbeit", das letzte Buch des Lyrikers Tomas Tranströmer.

Von NICO BLEUTGE

Als Kind hatte Tomas Tranströmer einen wiederkehrenden Traum. Ein einfaches geschlossenes Zimmer, in dem vollkommene Sicherheit herrschte. Die Tür war durch eine Zauberformel verriegelt. Und es gab dort alles, was man sich nur wünschen konnte. Doch das Zimmer lag in einem großen Haus, in dem das genaue Gegenteil herrschte: absolute Unsicherheit. Korridore, durch die man flog und in denen man von Fledermausmenschen gejagt wurde.

Die kleine Skizze enthält nicht nur Fragmente aus Tranströmers Traumleben, sie erzählt auch etwas von seinem Schreiben. Fast alle Gedichte inszenieren Bewegungen, die zwischen sich umschließenden, widersprüchlichen Räumen stattfinden. Es kann eine fast idyllische Stadt- oder Landszenerie sein, in der sich plötzlich Öffnungen ins Dunkel zeigen. Oder, umgekehrt, eine verstörende Atmosphäre, in der ein epiphanischer Moment aufblitzt: ein leuchtendes Herbstmeer, die Augen eines Kindes, Lichter einer Siedlung, die am Rand des Gesichtskreises flimmern.

Doch so atmosphärisch seine Gedichte auch sind - es ging Tranströmer nie darum, eine "Stimmung des Augenblicks" einzufangen. Der Chimäre der Unmittelbarkeit wusste er stets auszuweichen. Eher gleichen seine Versbewegungen den Versuchen jener Figur aus einem seiner Erzählgedichte, die ein Dickicht durchqueren will, in dem es eine Lichtung gibt: "Nur mit einem Schritt nach vorne und zweien zur Seite, wie ein Schachspringer, ist es möglich durchzudringen." Dabei fühle er sich während des Schreibens wie ein Instrument, hat Tranströmer einmal in einem kurzen Text geschrieben. Ihn interessiere das, was nach dem Vergehen der Augenblicke bleibe. Nüchtern zusammengefasst klingt es so: "Kontinuität, Überblick, die Vereinigung der Gegensätze."

Dieser Vereinigung der Gegensätze kann man jetzt in einem schön gestalteten Band nachspüren, der den Titel "Randgebiete der Arbeit" trägt. Tomas Tranströmer konnte den größten Teil der Auswahl noch selbst treffen. Seine Frau Monica und der Literaturkritiker Magnus Halldin halfen ihm bei der Sichtung des Materials. Als Tranströmer im März 2015 mit 83 Jahren starb, war die Sammlung aus Briefen und Notizzetteln, Gedichtentwürfen und kleinen Reiseberichten, Fotos, Dankreden und Interviews bis auf den Titel fertig.

Nobel Prize in Literature 2011 laureate Swedish Tomas Tranströme

Tomas Tranströmer erhält den Literaturnobelpreis.

(Foto: dpa)

Sie hätten versucht, bei der Gestaltung des Bandes "eine gewisse Archivstimmung zu schaffen", schreiben Halldin und der deutsche Herausgeber Wolfgang Butt im Vorwort. Zum Glück ist ihr Archiv kein staubiges Magazin geworden. Vielmehr gleicht es jener winzigen Vorratskammer, die eine der Fotografien zeigt: Darin bewahrte Tranströmer all die Materialien auf, die sein Schreiben umgaben. Heute sind die Bücher, Zettel, Zeitungsausschnitte und Bilder fein säuberlich in Plastikboxen und auf Regalbrettern gestapelt. Entsprechend klar folgt das Buch in Zehn-Jahres-Schritten Tranströmers Leben.

Komponiert ist es so, dass immer wieder Gedichte, Fotos und Faksimiles den Lauf der Berichte und Reden unterbrechen und den Leser einladen, die Lese- und Schaugeschwindigkeit für Momente herunterzufahren.

Wir sehen Tranströmer als Kind mit seinem Großvater auf einer Insel in den Stockholmer Schären. Als pfeiferauchenden Psychologiestudenten mit Jackett und Fliege. Oder als jungen Familienvater in der Nähe von Linköping, wo er sechs Jahre lang in der Anstalt Roxtuna straffällige Jugendliche betreute.

Über den Zusammenhang von Arbeit und Schreiben hat er in den Texten dieses Bandes viel nachgedacht. Von Linköping ging es 1965 nach Västerås, wo Tranströmer erst als Psychologe bei einer Personalverwaltung, dann am Arbeitsmarktinstitut angestellt war. Der Kontakt mit den Problemen der Welt finde sich in sehr hohem Maße in seinen literarischen Sachen, sagt er einmal in einem Interview, auch wenn dieser Kontakt nicht immer auf direkte Art und Weise in die Gedichte einwandere.

Aus dem Nachlass: Tomas Tranströmer: Randgebiete der Arbeit. Hrsg. von Magnus Halldin und Wolfgang Butt. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Carl Hanser Verlag, München 2018. 264 Seiten, 28 Euro.

Tomas Tranströmer: Randgebiete der Arbeit. Hrsg. von Magnus Halldin und Wolfgang Butt. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. Carl Hanser Verlag, München 2018. 264 Seiten, 28 Euro.

Beim Schreiben sei ein starker Druck zu verspüren: "Was ich aufs Papier bringe, muss mit diesem totalen und ziemlich dunklen Bild der Welt zusammen existieren können." Hier könne das Gedicht ansetzen und tatsächlich "eine Bresche in die Mauer konventionellen Denkens und Sehens der Menschen" schlagen.

Alle vier bis fünf Jahre versuchte Tranströmer mit einem neuen Gedichtband, eine solche Bresche zu schlagen. Sehr viel änderte sich jedoch, als er Ende 1990 einen Schlaganfall erlitt. Von da an war die rechte Seite seines Körpers gelähmt, er musste im Rollstuhl sitzen und konnte kaum mehr sprechen. Der Schreibimpuls freilich blieb, suchte sich seinen Weg nun zu kürzeren Formen wie dem Haiku. Im gleichen Maße wie die Gedichte kleiner wurden, wurde Tranströmers Ruhm größer. Als er 2011 den Nobelpreis erhielt, waren seine Gedichte schon in zahllose Sprachen übersetzt.

Ein wenig schade ist es, dass das Buch mit seinen vielen Lob- und Dankreden am Ende fast zu preislastig wird. Aber das schmälert nicht die Leselust. Wer noch einmal eintauchen will in Tomas Tranströmers Sprachwelt, in der das wachsende Gras zu einem "schwachen Dröhnen von Millionen kleiner Gasflammen" werden kann, der wird hier mit Sicherheit fündig.

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