Klassische Musik:Was macht Glenn Goulds Kritzeleien so wertvoll?

Klassische Musik: In den Anmerkungen zur dritten der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach zeigt sich der Perfektionsanspruch des Pianisten Glenn Gould.

In den Anmerkungen zur dritten der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach zeigt sich der Perfektionsanspruch des Pianisten Glenn Gould.

(Foto: Bonhams)
  • Zu einem Aufrufpreis von 100 000 Dollar wird in New York Glenn Goulds Partiturvorlage der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach versteigert.
  • Goulds Kritzeleien auf den Notenblättern sind ein Plan für die Postproduktion, für den endgültigen Schnitt. Der hatte seit den Fünfzigerjahren durch neue technische Aufnahmemöglichkeiten eine zunehmend perfekte Aufnahme zum Ziel.
  • In tagelanger, manchmal wochenlanger Kleinarbeit entstanden so die berühmten Bach-Aufnahmen von Glenn Gould.

Von Helmut Mauró

Als Los 205 wird bei Bonhams in New York an diesem Mittwoch Glenn Goulds Partiturvorlage der Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach versteigert. Der kanadische Pianist hat sie für die zweite Aufnahme des Werkes 1981 verwendet und mit Anmerkungen versehen. Zusammen mit zwei Blättern seiner handschriftlichen Notizen zu dieser Einspielung aus Goulds Nachlass wird ein Preis von 100 000 Dollar aufgerufen.

Aber was macht die Kritzeleien Goulds so wertvoll? Und warum legt der Pianist einen so dichten, teils mehrlagigen Notizteppich über den originalen Notentext, sodass dieser stellenweise darunter verschwindet? Klar ist, dass die Noten erst nach Goulds Plattenaufnahme übermalt wurden. Es sind nicht Spielanweisungen zu Phrasierung oder Pedalgebrauch, sondern ein aus Protokollnotizen mehrerer Aufnahme-Durchgänge erstellter Plan für die Postproduktion, für den endgültigen Schnitt. Darin zeigt sich eine neue Ästhetik, die auf technischem Fortschritt beruht. Fortan ist die Aufnahmetechnik eine Kategorie künstlerischen Ausdrucks.

Die Zeit war reif dafür. Nach Kriegsende richtete sich die Faszination für technische Entwicklungen wieder auf zivile Ziele. In den Fünfzigerjahren betraf dies die Musikindustrie in besonderem Maß. Es ging nicht mehr nur darum, ein Live-Konzert möglichst perfekt auf Schallplatte zu konservieren, sondern mittels immer besserer Aufnahmebedingungen die perfekte Version herzustellen. Ohne falsche Noten, ohne Störgeräusche, ohne verfälschende Raumakustik. Alles konnte nun unter Laborbedingungen gleichsam keimfrei produziert werden. Musiker und Tontechniker rückten als die eigentlich Kreativen in den Mittelpunkt, der Komponist lieferte nur noch den Plan. So sprach Glenn Gould, wenn er über Johann Sebastian Bach redete, immer von dem großen Architekten, dem größten Klangarchitekten aller Zeiten. Wobei es hier nicht um die Gestaltung des Klangs im eigentlichen Sinn gehen konnte. Klang-Design kam später hinzu, und für Bach war der spezifische Klang eines Instrument in aller Regel nicht bestimmend für seine Kompositionen. Man hatte meist nicht die Wahl der Instrumente, vor allem der ausführenden Musiker. Klang als wesentlicher Parameter einer Komposition setzt sich erst im 19. Jahrhundert durch.

Glenn Gould wurde gerade damit berühmt, dass sein Bach-Spiel auf bis dahin nicht gekannter klanglicher Abstraktion beruhte. Und dass er trotzdem nicht spröde oder leblos wirkte, sondern auf direktem Weg zur Substanz des Werkes führte. Gould steigerte sich dabei so sehr in die alte kontrapunktische Kompositionstechnik, dass er sie zum Qualitätsmaßstab allen Komponierens erhob. Mozart war für ihn konsequenterweise ein zweitrangiger Komponist. Aber Konsequenz, bis an die Grenze des Fanatismus, war wohl die Voraussetzung für die Perfektion.

In tagelanger, manchmal wochenlanger Kleinarbeit entstanden die berühmten Bach-Aufnahmen von Glenn Gould

Der Tonmeister, so muss man dieser Aufnahme-Partitur der Bachschen Goldberg-Variationen entnehmen, war nur noch Knecht im Dienste des ausführenden Meisters Gould. Das Werk Bachs bleibt für sich ein historisches Kunstwerk, die Aufführung jedoch ist nun ein neues Kunstwerk, und die Aufführung im Studio der Prototyp aller Aufführungen. Man kann anhand dieser Anmerkungen nachvollziehen, welche Takes für das Endprodukt verwendet wurden, oft ergeben erst mehrere Schnipsel aus verschiedenen Durchläufen ein neues Ganzes, wie man in der vierten Zeile der ersten Seite sehen kann: Die zweite Hälfte des dritten Durchlaufs soll mit der des zweiten zusammengeschnitten werden. In tagelanger, manchmal wochenlanger Kleinarbeit entstanden so die berühmten Bach-Aufnahmen von Glenn Gould, und man wundert sich im Nachhinein, wie lebendig und persönlich sie klingen in all ihrer technischen Konstruiertheit und klanglichen Abstinenz. Das ist das eigentliche Gould-Wunder, das die Welt schon bei Veröffentlichung seiner ersten Aufnahme der Goldberg-Variationen überraschte, faszinierte, schockierte.

Dass dann am Ende seines durch einen Schlaganfall abgebrochenen Lebens, kurz vor seinem 50. Geburtstag 1981, eine zweite Einspielung dieses zentralen Werkes erschien, wirkt wie von göttlicher Hand gestrickt. Vor allem aber bleibt ein Eindruck davon, was auch im Zeitalter technischer Dominanz an individueller Größe möglich ist, wenn sich der Künstler selber zum Teil eines größeren Kunstwerkes macht.

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