Unvollständige Liste:Gestorben auf der Flucht nach Europa

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Diese Menschen waren auf einem Gummibootunterwegs nach Italien, als Helfer einer privaten Organisation sie im Juni retteten. Doch oft sterben Flüchtlinge bei dem verzweifelten Versuch, nach Europa zu gelangen. (Foto: Chris McGrath/Getty Images)
  • Eine Organisation veröffentlicht eine Liste mit den Namen von Menschen, die auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen sind.
  • Diese zählt mehr als 35 000 Menschen - vollständig ist sie nicht. Über die Geflüchteten selbst gibt es oft nur wenige Informationen.
  • In begleitenden Essays wird klar: Es ist nicht Europa, dass mit besonders gravierenden Folgen der globalen Migration zu kämpfen hat.

Rezension von Dietmar Süß

Unvollständig ist sie geblieben - die Liste mit Geflüchteten, die auf dem Weg nach Europa ums Leben gekommen sind. Von manchen gibt es nur einen seelenlosen Fundort an den Küsten des Mittelmeeres. Und manche sind einfach auf dem langen Weg verschollen, ertrunken oder haben das Elend nicht mehr ausgehalten.

Mehr als 35 000 Menschen zählt die Liste der Organisation United for Intercultural Action auf, ein Zusammenschluss von Initiativen aus 48 Ländern; eine Liste, die die beiden Herausgeberinnen, Kristina Milz und Anja Tuckermann, ergänzt haben durch eigene Recherchen. Dennoch hat dieses ungewöhnliche Projekt lange nicht alle Toten ermitteln können. Die Zählung beginnt mit dem Jahr 1995, und es kann angesichts mancher Unsicherheit letztlich nur eine vorsichtige Ahnung davon vermitteln, was Flucht tatsächlich bedeutet.

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Flüchtlingen werden oft Stereotype wie fremd und gefährlich zugeordnet, sagt der Konfliktforscher Andreas Zick. Dieser Diskriminierung seien sie sich bewusst - was schlimme Folgen haben kann.

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Hinter jeder der kalten Zahlen und Nummern steckt eine Lebensgeschichte - etwa die der 19-jährigen Fatim Jawara, die ebenso im Mittelmeer ertrank wie die Syrerin Suzan Hayider mit ihren beiden Kindern. Der erst 14-jährige Somalier Nalo verhungerte in einem der Schleppergefängnisse in Libyen ebenso wie Fajac und Ban Bas.

Von solchen Geschichten gibt es viele in diesem Buch, das auch Teil einer Geschichte unserer Gegenwart ist. Oft sind es nur wenige Informationen, die geblieben sind und in einer schier endlosen Tabelle präsentiert werden, unterbrochen durch kleine Biografien und eingeleitet durch engagierte Essays, die mit guten Gründen kein gutes Haar an der europäischen Asylpolitik lassen.

Journalisten sind dabei, Menschenrechtsaktivisten, Kirchenvertreter, Wissenschaftler und Geflüchtete selbst. In der Sprache rechter Populisten lauter "Gutmenschen" also, die allesamt auf das Selbstverständliche hinweisen: auf die Schutzbedürftigkeit der Schwächsten.

Kristina Milz, Anja Tuckermann (Hg.): Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste, Hirnkost-Verlag, Berlin 2018. 462 Seiten, 3,99 Euro. (Foto: Hirnkost)

Man muss nicht alle Deutungen des Bandes teilen. Und doch gehört es zu den unangenehmen Wendungen unserer Zeit, wie sehr es inzwischen zum Allgemeingut gehört, ausschließlich über die "Fehler" in der Asylpolitik zu sprechen - und damit vor allem eine immer rigidere Praxis in der Verfolgung und Abschiebung Geflüchteter zu fordern. Die erfolgreiche Hetze gegen den UN-Migrationspakt ist gerade deshalb so verstörend: nicht weil die AfD dagegen trommelt, sondern weil sich so viele innerhalb des bürgerlichen Lagers von diesen Desinformationskampagnen haben anstecken lassen.

Die Ökonomien des Nordens haben einen zentralen Anteil an der Armut des Südens

Deutlich wird, dass es eben keinesfalls Europa ist, das mit den besonders gravierenden Folgen der globalen Migration zu kämpfen hat - seine Pforten sind schon lange immer weniger durchlässig. Dagegen sind es vor allem die Länder des Südens, die mit den Folgen ökonomischer, politischer und klimatischer Katastrophen fertig werden müssen.

Und es ist nicht die Erfindung einer linken Verschwörung, dass an vielen dieser Krisen die kapitalistischen Ökonomien des Nordens einen zentralen Anteil haben, ja, dass ihr Wohlstand, ihre Lebensweisen diese Armut mitproduzieren. Das alles ist nicht neu, aber wissen will es kaum jemand.

Das Buch ist ein Plädoyer gegen die Politik täglicher Gleichgültigkeit. Es berührt und macht zornig - Seite für Seite.

Dietmar Süß lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Augsburg.

© SZ vom 10.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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