Rezension:Das giftige Erbe der Alten

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Obwohl sie zahlreiche Preise bekommen hat und in philologischen Seminaren regelmäßig gelesen wird, gilt Yoko Tawada noch immer als Geheimtipp. Das könnte sich mit dem National Book Award ändern.

(Foto: AFP)

Yoko Tawada lebt in Berlin und schreibt Bücher auf Deutsch und Japanisch. Ihr neuester Roman "Sendbo-o-te" wurde gerade mit dem National Book Award ausgezeichnet.

Von Lea Schneider

Die Katastrophe ist bereits geschehen. Alle Tiere sind ausgestorben, alle Böden kontaminiert. Über die gähnenden Löcher, die früher der Gehweg waren, wurden Glasplatten verlegt, durch die man den Abgrund unter den Füßen sieht. In den ausgestorbenen Innenstädten sitzen Tausende "Gäste, alle mit Namen Bin-nicht-da", an den Restauranttischen und "trinken und essen, all they can". Die Kinder, die noch geboren werden, kommen mit unheilbaren Krankheiten zur Welt und sterben früh. Die Alten dagegen werden immer älter, als wären sie dazu verurteilt, ewig dem Kollaps beizuwohnen, den sie durch ihre Konsumgewohnheiten verursacht haben.

In dieser nahen postapokalyptischen Zukunft von Yoko Tawadas Roman "Sendbo-o-te", der in den USA soeben mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde, hat Japan sich vollständig abgeschottet: Reisen ins Ausland sind verboten, Übersetzungen sind verboten, die meisten Fremdsprachen sind verboten. Man darf "zwar noch Tagalog, Deutsch, Suaheli oder Tschechisch lernen, aber es war furchtbar schwer, Lehrer und Lehrbücher zu finden." Auch die Benutzung von Fremdwörtern ist untersagt.

Sie ist eine Vertreterin der Germanophonie, eine Autorin des "Pidgin-German"

Dieser leider nur zum Teil fiktive sprachliche Reinheitsfetisch der japanischen Regierung könnte kaum weiter von Yoko Tawadas Arbeit als Autorin entfernt sein. 1982 von Japan nach Deutschland gezogen schreibt sie in beiden Sprachen, manchmal im ständigen Wechsel während der Arbeit am selben Buch. Obwohl sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurde und in philologischen Seminaren häufig gelesen wird, gilt sie immer noch als Geheimtipp.

Man kann Tawada als Vertreterin eines utopischen germanophonen Sprachraums sehen, in dem, analog etwa zum etablierten Begriff des Frankophonen, jeder Sprecher gleichberechtigt an der Gestaltung der Sprache mitwirkt, unabhängig von Nationalität, Lernfortschritt oder grammatikalischen Kategorien.

Aus ihren Büchern spricht die Lust, Unordnung ins steife Hochdeutsch zu bringen; etwas zu entwickeln, was die Publizistin Jagoda Marinić als "Pidgin-German" bezeichnet. Statt Diversität und Dialekt hat Deutschland momentan allerdings verpflichtende Sprachtests bei der Einbürgerung und Kolumnen von Bastian Sick - die Katastrophe ist vielleicht auch hier bereits geschehen.

Doch wie im Magischen Realismus das Irreale vor allem dazu diente, über die lateinamerikanischen Diktaturen sprechen zu können, öffnet das Fantastische auch hier einen eigenen Realismus. Die Handlung des Romans wird durch seine beiden Hauptfiguren zusammengehalten: Den hundertjährigen Schriftsteller Yoshiro und seinen todkranken Urenkel Mumey, von dem es heißt, dass er bereits bei der Geburt "weniger wie neugeboren als neu aufgebrüht" ausgesehen habe. Tatsächlich handelt es sich bei der Erzählung aber eher um eine Abfolge von Einzelschicksalen, die als Nebenfiguren auftreten und dann über unerwartet viele Seiten Platz einnehmen.

Wie in einem Film von Wong Kar-Wai bemerkt man die Szenenwechsel oft erst, wenn sie längst erfolgt sind und man sich etwa schon mitten in der Geschichte des Bäckers befindet, bei dem Yoshiro sein Brot kauft: Der Bäcker war ursprünglich Maler, musste seinen Beruf aber aufgeben, weil sämtliche Kunstkritiker seine abstrakten Gemälde als konkrete Darstellungen europäischer Landschaften interpretierten, sodass die Malerei ihm schließlich zu riskant wurde. "Sendbo-o-te" wurde auf Japanisch verfasst.

Im Gegensatz zu einigen ihrer Bücher hat Tawada es nicht selbst ins Deutsche übertragen. Ihr Übersetzer Peter Pörtner aber leistet überragende Arbeit, und das ist umso mehr hervorzuheben, als dieses Buch ganz wesentlich ein Buch über Sprache ist. Da diskutiert Yoshiro verschiedene Berufsmöglichkeiten mit seinem Enkel anhand der Frage nach dem "direkten Objekt" seiner Verben; da benennt die Bäckerei jede ihrer Brotsorten nach einer deutschen Stadt, die im Japanischen zum Wortspiel wird: Aus Bremen wird Buremen, die "Wackelnudel", aus Rotenburg wird Rotenboruku, der "Freiluftbadebezirk." Für all das fügt der Übersetzer Kontextualisierungen ein, die diese Meditationen über die japanische Sprache erklären, ohne den Fluss der Erzählung zu stören. Manchmal wünscht man sich mehr davon, etwa, wenn es von Mumeys Mutter heißt, sie sei "weder ein Pinguin noch eine Mandarinente" gewesen - für die meisten deutschsprachigen Leser dürfte es nicht zum Allgemeinwissen gehören, dass die monogamen Mandarinenten ein Symbol für eheliche Treue sind.

Fast immer gelingt es Pörtner aber, Tawadas einzigartige Mischung aus Hemdsärmeligkeit und Ungewöhnlichkeit auch im Deutschen leuchten zu lassen. Manchmal überschreitet ein Satz die Grenze zum Kitsch, aber dann wird noch auf derselben Seite der weiße Kompressionsanzug eines Mädchens, das ohne ihn nicht überlebensfähig wäre, kommentiert mit: "Vielleicht die Schönheit einer Zeit, die noch nicht angekommen war."

Die Polizei ist privatisiert und zieht als Blaskapelle durch die Städte

Es sind diese auf den ersten Blick fast lapidaren Bemerkungen, aus denen in "Sendbo-o-te" eine Leichtigkeit entsteht, die das Fantastische nebensächlich normal und das Normale außergewöhnlich schön erscheinen lässt. Welche Katastrophe sich in der Welt dieses Romans wirklich ereignet hat, das wird nie benannt. Atomare Verseuchung liegt nahe, auch, weil Tawada sich seit Jahren gegen die Folgen von Fukushima und den Nationalismus der Abe-Regierung engagiert.

Aber die ökologische und politische Katastrophe ist eben auch eine Katastrophe der Sprache. Das zeigt sich mit der Beiläufigkeit, die Tawada so großartig beherrscht, an Kleinigkeiten: Yoshiro arbeitet an einem Manuskript, das er letztlich vernichten muss, weil es zu viele Namen ausländischer Orte enthält und es ihm nicht gelingt, diese Namen durch andere zu ersetzen, denn "Ortsnamen verbreiten in einem Text feine Äste, wie Blutäderchen". In die Ökologie des Sagbaren ist der Körper genauso eingebunden wie in die der Umwelt, und beide beeinflussen sich wechselseitig: "Es war schwierig geworden, über das Wetter zu sprechen, seit sich Kälte und Hitze zu einer trockenen Feuchtigkeit zusammengetan hatten, die mit der Haut und der Sprache der Menschen ein übles Spiel treibt."

Trotz aller Katastrophen ist "Sendbo-o-te" eine Dystopie mit utopischen Zügen: Die Polizei ist ebenso wie die Regierung privatisiert worden, aber anstatt willkürliche Verhaftungen vorzunehmen, sieht man sie seitdem vor allem als bunt uniformierte Blaskapellen durch die Straßen ziehen. Von Morden hört man nichts mehr, aber es ist unklar, ob das an den gleichgeschalteten Medien liegt oder daran, dass Lebensversicherungen verboten wurden und sich Morde deshalb nicht mehr lohnen. Die Grenzen zwischen den Geschlechtern verschwimmen, weil die meisten Menschen mehrmals im Leben einen spontanen Geschlechtswechsel erleben. Sexismus und Homophobie scheinen damit erledigt zu sein; Toiletten sind All-Gender-Spielplätze geworden, auf denen man gegen bunte Fresken von Chrysanthemen pinkelt.

Tawadas Zukunft ist urkomisch und furchtbar zugleich. Damit wirkt sie an vielen Stellen wie eine nur um weniges weitergedrehte Version der Gegenwart, und genau als solche wird sie auch politisch interessant: Letztlich erzählt "Sendbo-o-te" die Geschichte von Menschen, die ohne Hoffnung handlungsfähig sind - denen es gelingt, weder zu verzweifeln noch abzustumpfen, sondern mit demselben empathischen Pragmatismus wie Tawadas Sprache auszuprobieren, was passiert, wenn man weitermacht.

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