EU-Studie:Antisemitismus in Europa nimmt massiv zu

Hände halten eine Kippa

Hände halten die Kippa, die im Mittelpunkt des antisemitischen Angriffs Mitte April in Berlin stand. Getragen hatte die Kopfbedeckung ein junger Israeli, der von einem Syrer angegriffen worden war.

(Foto: dpa)

Jeder dritte Jude in Europa hat seit 2013 ans Auswandern gedacht. Die Angst, tätlich attackiert zu werden, wächst - und nirgends scheinen Belästigungen häufiger als in Deutschland.

Von Matthias Kolb, Brüssel

In Europa lebende Juden erleben eine massive Zunahme von Antisemitismus in den vergangenen fünf Jahren. Einer Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) in zwölf Ländern zufolge geben nirgendwo so viele Menschen an, antisemitisch belästigt worden zu sein wie in Deutschland. 41 Prozent der 1233 Befragten in Deutschland teilten mit, im vergangenen Jahr eine antisemitische Erfahrung gemacht zu haben - der europäische Durchschnitt liegt bei 28 Prozent. In den vergangenen fünf Jahren seien in Deutschland 52 Prozent beleidigt, angestarrt oder beschimpft worden - europaweit waren es 28 Prozent.

"Ich hatte mit einer Verschlechterung gerechnet, aber die Ergebnisse sind schockierend", sagt EU-Justizkommissarin Věra Jourová, die den 86 Seiten langen Bericht vorstellte, der Süddeutschen Zeitung. Für die Studie wurden online insgesamt 16 395 Menschen aus zwölf EU-Ländern befragt, die 96 Prozent der jüdischen Bevölkerung in der Europäischen Union abdecken. Da die Grundrechte-Agentur bereits 2012 eine Studie zu Antisemitismus in sieben Ländern erstellt hat, sind Vergleiche möglich. Der Trend gibt Anlass zur Sorge.

Überall in Europa ist demnach eine Zunahme von antisemitischen Vorfällen zu beobachten: Neun von zehn Juden sind dieser Ansicht. 85 Prozent der Juden in der EU bezeichnen Antisemitismus und die damit verbundene Verschlechterung der Sicherheitslage als das wichtigste Problem für sie - noch vor Arbeitslosigkeit (Ausnahmen sind Spanien und Italien). Abgesehen von Ungarn wird in allen EU-Staaten eine Zunahme der Judenfeindlichkeit wahrgenommen - besonders deutlich ist der Anstieg hierzulande. "Deutschland fällt in die Kategorie 'sehr problematisch', genau wie Belgien, Frankreich und Polen", sagt Jourová.

Der Untersuchung zufolge verzichten 75 Prozent der befragten Juden in Deutschland "manchmal, häufig oder immer" auf das Tragen jüdischer Symbole in der Öffentlichkeit. 46 Prozent von ihnen vermeiden es demnach, gewisse Viertel in ihrer Stadt aufzusuchen. Besonders dramatisch ist die Lage in Frankreich, wo 88 Prozent der Befragten Vandalismus gegenüber jüdischen Gebäuden und Institutionen beklagen. Für Michael O'Flaherty, den Direktor der Grundrechte-Agentur, unterstreichen die Ergebnisse, dass der Antisemitismus in Europa "allgegenwärtig" bleibt und "auf verstörende Art als normal empfunden" wird, wie er im Vorwort der Studie schreibt.

Diese Stimmung führt dazu, dass mehr als jeder dritte Jude (38 Prozent) seit 2013 mit dem Gedanken gespielt hat, das Heimatland zu verlassen. Auch hier liegt der Wert für die Bundesrepublik mit 44 Prozent über dem europaweiten Durchschnitt - und im Vergleich zu 2012 ist auch die Zunahme erheblich. Faktisch sind nur vier Prozent der Befragten wirklich umgezogen, aber die Umfragewerte belegen, wie fragil das Sicherheitsgefühl von Juden und Jüdinnen in Europa ist.

Am schlimmsten und problematischsten wird der Antisemitismus im Internet und den sozialen Medien wahrgenommen: 89 Prozent der Befragten äußerten sich dementsprechend. Hier scheint der Verhaltenskodex, den die großen Internetfirmen freiwillig mit der EU geschlossen und wonach gemeldete Hasskommentare innerhalb von 24 Stunden gelöscht werden müssen, noch nicht ausreichend zu wirken. Knapp drei Viertel sehen Judenfeindlichkeit auf Straßen und Plätzen als "großes oder sehr großes Problem", während 71 Prozent Vorurteile in den Medien beobachten.

Die EU-Kommission will alles daran setzen, das Erinnern an den Holocaust aufrechtzuerhalten. "Wir werden nicht zulassen, dass der Völkermord an den Juden vergessen oder trivialisiert wird", so Jourová zur SZ. Sie appelliert an die Mitgliedstaaten, für die Sicherheit der jüdischen Mitbürger zu sorgen: "Das ist Aufgabe der Regierungen, die müssen das bezahlen, nicht die jüdischen Gemeinden." Die Mehrheit der Befragten attestiert ihren Regierungen gute Absichten, aber der gewünschte Effekt - ein Gefühl der Sicherheit - tritt selten ein.

Eindeutig sind die Zahlen auch in der Frage, ob die europäischen Juden und Jüdinnen sich an die Polizei und Behörden wenden, wenn sie attackiert und beleidigt werden - online wie offline. Dies geschieht jedoch in drei von vier Fällen nicht, wozu es nach Angaben der Europäischen Agentur für Grundrechte diverse Gründe gibt.

Die Befragten sind sich einig, dass die Geschehnisse in Nahost die Häufigkeit und Intensität antisemitischer Vorfälle in Europa beeinflussen. In Belgien und Frankreich sagen 85 Prozent, dass der arabisch-israelische Konflikt ihr Sicherheitsgefühl beeinträchtigt. In Deutschland liegt der Wert mit 73 Prozent über dem EU-Durchschnitt. In einer anderen Kategorie liegt die Bundesrepublik vorne - nirgends werden Juden so oft für Handlungen des Staates Israel kritisiert.

In ihrer Pressekonferenz betonten Justizkommissarin Jourová und der Erste Vizepräsident der EU-Kommission, Frans Timmermans, die Bedeutung, Polizisten, Lehrer und Beamte zu sensibilisieren. Timmermans bezeichnete den Antisemitismus als "Kanarienvogel im Bergwerk" und somit als wichtigen Gradmesser. Wenn Juden angefeindet würden, dann sei es nur eine Frage, bis andere Minderheiten attackiert würden.

Auch dazu passt eine Zahl aus der Studie: Mit 72 Prozent äußert eine deutliche Mehrheit der Befragten Sorge über eine wachsende Intoleranz gegenüber Muslimen - obwohl sie auch von Angehörigen dieser Religion regelmäßig beleidigt und attackiert werden. EU-weit zählten zu den häufigen Täter-Gruppen Menschen mit extrem muslimischen Einstellungen (30 Prozent), gefolgt von Menschen aus der eher linken Szene (21 Prozent) sowie Arbeits- oder Schulkollegen mit 16 Prozent. Es folgten Bekannte (15 Prozent) und Personen mit eher rechtsextremen Ansichten (13 Prozent).

Die nun erhobenen Daten zeigen eindeutig, wie verankert antisemitische Stereotype in den europäischen Köpfen verankert sind. Ihnen wird vorgeworfen, ihre Opferrolle zu übertreiben und in Ungarn und Polen haben 53 beziehungsweise 70 Prozent der Befragten den Satz "Juden haben zu viel Macht in unserem Land" gehört. In Westeuropa, vor allem in Spanien und Deutschland, werden Juden ähnlich häufig mit "Die Israelis treten wie Nazis gegenüber den Palästinensern" konfrontiert.

Dass die Studie (hier als PDF) am 70. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorgestellt wird, ist kein Zufall. Die Europäer dürften in ihrem Kampf gegen Antisemitismus nicht nachlassen, fordert O'Flaherty von der FRA. Er zitiert einen Satz von UN-Generalsekretär António Guterres, der kürzlich daran erinnerte, dass die Gründung der Vereinten Nationen unmittelbar mit den Lehren des Holocaust zu tun hätte.

Für die Europäische Union gilt dies genauso.

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