Brexit:Was das EuGH-Urteil für den Brexit bedeutet

Die Briten können den Brexit einseitig zurücknehmen, urteilt der Europäische Gerichtshof. Das ist kein Grund zum Jubeln für die Remainer - aber gibt ihnen Auftrieb.

Von Thomas Kirchner

Der Brexit ist - noch - umkehrbar. Sollte Großbritannien es sich anders überlegen und den "Rücktritt vom Austritt" erklären, wäre das nicht nur rechtlich möglich. An der EU-Mitgliedschaft des Landes, samt den beträchtlichen Ausnahmen, die es über die Jahrzehnte ausgehandelt hat, würde sich auch nichts ändern. Das stellte der Europäische Gerichtshof in großer Deutlichkeit fest. Das Urteil gab all jenen auf der Insel und im Rest Europas Auftrieb, die genau dieses Szenario herbeisehnen.

Wenn ein Mitglied der Europäischen Union entschieden habe, diese zu verlassen, "ist das Mitgliedsland frei, diese Mitteilung einseitig zu widerrufen", urteilte das Gericht. Das sei so lange möglich, wie das Austrittsabkommen noch nicht in Kraft getreten sei. Falls man sich noch nicht auf ein Abkommen verständigt habe, sei der Schritt noch zwei Jahre nach der Austrittserklärung möglich, also bis 29. März 2019 - und sogar später noch, falls diese Frist verlängert werde. Einzige Voraussetzung sei, dass dem Rücktritt vom Austritt ein "demokratischer Prozess" gemäß britischen Verfassungsgrundsätzen vorangehe. Ein entsprechender Beschluss beende die Austrittsprozedur und setze den Mitgliedstaat wieder in seinen bisherigen Status ein. Im Falle Großbritanniens bedeutet das: Das Land dürfte weiterhin weniger als andere in den EU-Haushalt einzahlen und bräuchte sich weder an der Währungsunion noch am grenzfreien Schengen-Raum beteiligen.

Schon vor einer Woche hatte ein EuGH-Generalanwalt erklärt, die einseitige Widerrufung sei möglich. An diese Empfehlung hat sich das Gericht nun gehalten. Wegen der besonderen Dringlichkeit hatte der EuGH die Sache in einem Eilverfahren entschieden; sowie, was nur in seltenen Fällen geschieht, im Plenum aller Richter. Angerufen worden waren die Richter von einem schottischen Gericht. Dieses wiederum hatten Abgeordnete des schottischen, des britischen und des Europäischen Parlaments gebeten, zu klären, ob eine Seite unilateral einen "Rücktritt vom Austritt" erklären darf. Wenn über das mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen im Londoner House of Commons abgestimmt würde, wollte man wissen, welche Optionen überhaupt auf dem Tisch liegen: nur zwei, nämlich ein Brexit mit oder ohne Abkommen mit der EU? Oder doch auch eine dritte: die Rücknahme der Entscheidung? Für Brexit-Gegner ist das eine wichtige Frage. Wäre sie negativ beantwortet worden, hätte das die Bemühungen um ein neuerliches Referendum, auf das viele in Großbritannien mehr denn je ihre Hoffnung setzen, zwar nicht hinfällig gemacht. Doch wäre dann eine rechtliche Hürde entstanden, die politisch schwieriger zu überspringen wäre und den britischen Remainern Schwung genommen hätte.

Im Kern geht es um eine Klärung des interpretationsbedürftigen Artikel 50 des EU-Vertrags. Er enthält keine Vorgabe für den Rücktritt vom Austritt. Man könne aber analog die Regelung zum Austritt anwenden, urteilten die Luxemburger Richter. Es handle sich demnach um eine "souveräne Entscheidung, den Status als Mitglied der Europäischen Union zu behalten". Einen einmal erklärten Austritt auf alle Fälle durchzuziehen, dieser Gedanke vertrage sich nicht mit dem Ziel der EU-Verträge, "den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas [...] weiterzuführen". Das allerdings ist eine pikante Begründung, denn genau diese Formel aus der Präambel des EU-Vertrags ist besonders verhasst auf der Insel. Nach Ansicht vieler Briten verweist sie auf das Fernziel eines europäischen Staats und stellt die nationale Souveränität dadurch auf eine grundsätzlich inakzeptable Weise infrage.

Verworfen hat der EuGH den von der EU-Kommission und dem Rat der Mitgliedstaaten geforderten Schutzmechanismus gegen Missbrauch, etwa in Form einer zusätzlich nötigen einstimmigen Entscheidung der Staats- und Regierungschefs. Die beiden Institutionen hatten im Verfahren argumentiert, ein Staat könne die EU während der Austrittsverhandlungen mit dem Widerrufsrecht politisch erpressen, um einen besseren Deal zu erhalten. Verfassungsrechtler sprachen von einem rechtlichen "trojanischen Pferd", das sich die EU damit einhandele. Nach Ansicht des EuGH wäre mit einem solchen Schutzmechanismus aber der Grundsatz verletzt, wonach ein Staat weder zum Beitritt noch zum Austritt aus der EU gezwungen werden darf.

So viel ist sicher: Der Brexit wird nicht von Gerichten entschieden, er war immer eine genuin politische Frage und wird es bleiben. Das Urteil des EuGH ist kein Grund zum Jubeln für die britischen Remainer, es nimmt ihnen nur nicht die Hoffnung. Dass es tatsächlich zu einer zweiten Abstimmung kommt, ist nach jetzigem Stand eher unwahrscheinlich. Aber ausschließen sollte man beim Brexit gar nichts.

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