Theater:Krebs im Planschbecken

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"Mut und Gnade": Katharina Bach wird am Ende nicht mehr gegen das Wasser kämpfen. (Foto: Robert Schittko)

Am Schauspiel Frankfurt rettet Luk Perceval die Esoterik der Buchvorlage vor dem Absaufen.

Von Anton Rainer

Kurz nach ihrer Hochzeit plagt Treya Wilber das schlechte Gewissen eines Gebrauchtwagenhändlers. Gerade noch hat sie sich "verkauft", ihrem Ken, er trug seine Liebste über die Schwelle in das gemeinsame Leben, dann stellt sich heraus: Seine "nagelneue Frau" hat Krebs. Ob sie eigentlich wusste, will ihr Arzt wissen, dass da ein Knoten in ihrer rechten Brust ist? "Irgendwie fühlte ich mich wie schadhafte Ware", notiert Wilber in ihr Tagebuch. Fünf Jahre später ist sie tot, trotz etlicher Therapien und Reparaturen, trotz eines Mannes, der ihr sagt: "Du bist keine beschädigte Ware, du bist meine Frau."

Der belgische Regisseur Luk Perceval hat "Mut und Gnade", diese Saga des langsamen Verreckens, am Schauspiel Frankfurt inszeniert. Es ist eine wahre Geschichte, basierend auf dem autobiografischen Roman. Ken Wilber, Treyas Mann, hat ihn wenige Jahre nach ihrem Tod geschrieben, gefüttert mit Tagebucheinträgen und theoretischen Exkursen. Entstanden ist ein Text, "dessen Wechselfälle so unerwartet sind, dass kein Romanschriftsteller wagen würde, sie zu erfinden".

Das ist natürlich gelogen: "Mut und Gnade", erschienen 1991, beginnt mit einer Diagnose und endet mit dem erwartbaren Tod. An dem Werk, das in kürzester Zeit zum Bestseller avancierte, überrascht etwas anderes: "Mut und Gnade" ist, und man muss das in dieser Schärfe vorausschicken, ein durch und durch schreckliches Buch. Wilber, im Hauptberuf spiritueller Bewusstseinsforscher und "transpersonaler" Psychologe, nutzt den "heroischen Kampf" seiner sterbenden Frau nämlich zur ausgiebigen Selbstinszenierung: "Mut und Gnade" ist ein Buch, in dem Menschen eng umschlungen auf dem Sofa sitzen, dem "Tanz der inneren Energien nachspüren" und sich gegenseitig sagen, wie hochintelligent, genial, aufopfernd und einfühlsam sie sind. Seitenlang werden Mantras ausprobiert, Meditationstechniken geübt, esoterische Krebstherapien als wirksame Alternativen angepriesen. Wenn sich Konflikte andeuten, werden sie weggebügelt: Als Ken Wilber seine todkranke Frau in einem Wutanfall verprügelt, bedankt sie sich bei ihm, denn sie brauche seinen "Widerstand".

Wer sich durch die knapp 500 Seiten solcherart grässlicher Literatur kämpft, kann verstehen, warum das Hamburger Thalia Theater den Stoff dankend ablehnte und den Regisseur nach Frankfurt ziehen ließ. Andererseits weiß man die Mühe, die sich Luk Perceval für seine Bühnenfassung gegeben hat, dadurch erst zu schätzen. Obwohl er selbst Buddhist ist und seine Schauspieler mit Achtsamkeits-Yoga auf die Probenarbeit vorbereitet hat, bleibt in seiner Inszenierung wenig übrig von all dem esoterischen Geschwätz.

Stattdessen ist Percevals "Mut und Gnade" ein zutiefst existenzielles Stück geworden, es erzählt vom Dahinschlummern und Abkratzen und dem Unvermögen, beiden Varianten des Sterbens in irgendeiner sinnvollen Weise gerecht zu werden. Acht Schauspieler hat Perceval dafür auf die Bühne des Bockenheimer Depots gestellt, mal chorisch, mal im Kanon erzählen sie die Bewältigung einer zum Tode verurteilten Beziehung. Sehr oft wird einfach geschwiegen, sprachlos, dann schlägt die bipolare Inszenierung wieder ins Gegenteil um, dann lässt Perceval brüllen und kreischen und Mozart im Fortissimo einspielen - der Tod hat viele Facetten.

Sie zu spiegeln ist die Aufgabe von Philip Bußmann, der das Bockenheimer Depot in Frankfurt als Bühnenbildner bereits seit Langem kennt: Für "Mut und Gnade" hat er es mit bis zu den Knöcheln reichendem Wasser geflutet, trotzdem dauert es nur wenige Minuten, bis die vier Männer (Andreas Vögler, Sebastian Kuschmann, Rainer Süßmilch, Uwe Zerwer) und Frauen (Katharina Bach, Luana Velis, Patrycia Ziolkowska, Claude De Demo) klitschnass sind. Vom düsteren Planschbecken, in dem atemlos gefeiert und geknutscht wird, entwickelt sich diese Bühne langsam zum Seegrab, in dem beide Partner pflichtbewusst ersaufen. Es sind eindringliche, wirkungsvolle Bilder, die auf diese Weise entstehen, stärker in jedem Fall als die oft plattitüdenhafte Textfragmente der Vorlage. Selbstironie und Tiefsinn entstehen durch Luk Percevals dramatische Übersetzung: Der Mann etwa darf sich hier in vierfacher Ausführung so hilflos und bedröppelt geben, wie es sich der echte, gegen fachliche Kritik resistente Ken Wilber niemals erlaubt. Es ist ein Todeskampf auf beiden Seiten, choreografisch illustriert (Ted Stoffer) und immer wieder aufs Neue reproduziert. Eine zermürbende Arbeit mit ästhetischem Mehrwert ist das, die - meistens jedenfalls - über dem Kitsch steht.

Am Ende ist der Abschied eher leise: Treya durchschreitet den Todespool, sie kämpft nicht mehr gegen das tiefer werdende Nass, gegen den Sog. Das Wasser hat sie betrogen und erlöst, verführte sie zum Baden, floss freundlich durch Rutschbahnen und Wellness-Oasen und 80 Prozent ihres Körpers. Es spülte sie immer wieder von Neuem an Land - so lange, dass sie begann, ihm blind zu vertrauen: Wo Wasser, da Leben, es könnte eigentlich ewig so weitergehen.

© SZ vom 11.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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