Außenansicht:Selbsternannter Visionär

Zirahuen Villamar

Zirahuén Villamar, 38, hat Wirtschaftswissenschaft und europäische Integration studiert. Er war Dozent an der Autonomen Mexikanischen Nationaluniversität und promoviert derzeit an der Freien Universität Berlin.

(Foto: privat)

Der neue mexikanische Präsident will Verbrechen bestrafen und Ungleichheit bekämpfen. Dafür muss er Widerstände überwinden.

Von Zirahuén Villamar

Mit dem Slogan "Gemeinsam schreiben wir Geschichte" hat Andrés Manuel López Obrador, genannt AMLO, die mexikanische Präsidentenwahl gewonnen, kürzlich hat er sein Amt angetreten, das er sechs Jahre lang ausüben wird. Was AMLO vorhat, soll nichts Geringeres werden als die "Vierte Transformation" Mexikos nach Unabhängigkeit, Säkularisation und Revolution- so hat er das Projekt genannt. Gedacht hat er dabei weniger an eine neue Verfassung, als an eine Art moralischen Leitfaden, er stellt sich einen ethischen Katalog für Politik und Gesellschaft vor, entworfen von Denkern des Landes, die ihm nahestehen. Er will außerdem das Wirtschaftssystem grundlegend und in Windeseile verändern, den "Neoliberalismus" der vergangenen 30 Jahre beenden, der die soziale Ungleichheit verstärkt habe. AMLO verspricht, damit aufzuräumen, dass Verbrechen nicht bestraft werden, mit einem System also, das es einer Elite erlaubt hat, sich auf illegale Weise mit öffentlichem Geld zu bereichern, und all denen Schaden zufügt, die arm und weniger privilegiert sind. Diese Ungleichheit ist laut AMLO das Saatbett für die extreme Gewalt, die Mexiko in den vergangenen zwölf Jahren geplagt hat.

AMLO hat seit drei Jahrzehnten Nachrichtenwert in der nationalen Politik, er ist darin stets die dissonante Stimme gewesen. Seit seiner Zeit als Bürgermeister von Mexiko-Stadt in den Jahren 2000 bis 2005 kennt ihn in Mexiko jeder, sein Auftritt ruft leidenschaftliche Zuneigung oder schroffe Ablehnung hervor. In seinen öffentlichen Reden hat er die Welt stets in zwei Lager geteilt: in "uns" und "sie", in "unten" und "oben", deshalb könnte man AMLO durchaus auch einen Populisten nennen.

2006 verlor er im ersten Anlauf die Präsidentenwahl unter dubiosen Begleiterscheinungen. Damals prägte er den Begriff von der "Mafia der Macht", um anzuzeigen, wer diejenigen waren, die ihn seiner Meinung nach um die Präsidentschaft gebracht hatten. Zwölf Jahre später hat AMLO sich mit Politikern und Wirtschaftsbossen umgeben, die langsam aus der "Mafia der Macht" in den Kreis seiner Anhänger hinüber diffundiert sind. Er hat große Flexibilität an den Tag gelegt, sich mit Leuten sehr verschiedener und teils gegensätzlicher Interessen umgeben.

Einige nennen ihn deshalb einen Pragmatiker, für andere ist er ein Opportunist ohne Haltung. Andere wiederum vermuten, AMLO sei dabei, ein korporatives System zu schaffen, wie es Mexiko schon von den 1930er- bis in die 1980er-Jahre hatte, als die Institutionalisierte Partei der Revolution (PRI) das Land regierte.

Der Staatschef möchte darüber abstimmen lassen, ob alte Korruptionsfälle verfolgt werden

AMLOs Vision besteht aus dem, was man in Europa soziale Gerechtigkeit nennen würde. Mit Hilfe eines Wohlfahrtsstaates will er soziale Forderungen des 19. Jahrhunderts mitten im 21. Jahrhundert durchsetzen. Als Bürgermeister der Hauptstadt legte er Geschick an den Tag, diese Interessen mit denen der Privatwirtschaft zu verbinden. Berühmt wurde seine Freundschaft mit Carlos Slim, der lange Zeit der reichste Mann der Welt war. Dabei wirkte AMLO nicht gerade wie ein antikapitalistischer Aktivist und noch viel weniger wie ein Kommunist. Seine Forderung nach sozialer Gerechtigkeit rückt ihn in die Nähe des demokratischen Sozialismus eines Bernie Sanders. Die Symbolik AMLOs ist klar: er gibt sich alle Mühe, damit er und seine Regierung zu einer Republik der mittleren Einkommen passen - und nicht zu einem Emirat.

Zwar kennen nur wenige Mexikaner den Helmut Schmidt zugeschriebenen Spruch: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen." Doch für viele in der geschwächten Opposition und für seine Kritiker ist AMLO schlicht ein Fall für den Psychiater. Seine Vision habe keine Chance, Wirklichkeit zu werden, sie sei wirtschaftlich unverantwortlich und politisch gefährlich, sagen sie. Es fehlt auch nicht an Stimmen außerhalb und innerhalb Mexikos, die behaupten, es sei AMLOs "Krankheit", in dem lateinamerikanischen System der starken Männer und Diktatoren verwurzelt zu sein.

Auch Willy Brandts Leitsatz vom "Mehr Demokratie wagen" ist in Mexiko unbekannt. Doch AMLOs Vision knüpft an diese partizipative Demokratie an. Noch vor seinem Amtsantritt veranstaltete er fragwürdige "Volksbefragungen", die über den Weiterbau des neuen Flughafens von Mexiko-Stadt und seine Sozialprogramme befinden sollten. Wenn AMLO so weitermacht, sollte er zuerst die juristischen Rahmenbedingungen schaffen, damit solche Befragungen Legalität erhalten. Ansonsten, so behaupten es jedenfalls Opposition und Kritiker, öffnen sich die Türen zur Unregierbarkeit. AMLO hat den Gedanken ins Spiel gebracht, über eine Verfolgung von Korruptionsdelikten der Vergangenheit abstimmen zu lassen. Das wäre ein schädliches Zeichen im Kampf gegen die Straflosigkeit. In anderen Ländern Lateinamerikas hat man gesehen, wohin es führt, wenn die partizipative Demokratie Präsidenten dazu verleitet, sich an der Macht festzuhalten. Immerhin hat AMLO bei seiner Amtsübernahme geschworen, dass er keine Wiederwahl anstrebt.

AMLO selbst wirkt nicht eben wie ein progressiver Politiker des 21. Jahrhunderts. Individuelle Freiheiten wie Schwangerschaftsabbruch, LGBT-Rechte oder Drogenfreigabe hat er sich nicht auf die Fahnen geschrieben. Allerdings hat er fähige Leute in sein Regierungsteam geholt, denen diese Hauptanliegen der modernen Linken sehr wichtig sind. Die Innenministerin, erste Frau in diesem Amt, tritt dafür ein, den Konsum von Marihuana nicht mehr unter Strafe zu stellen und die Produktion von Opiaten zu kontrollieren, um den Drogenhandel und die damit einhergehende Gewaltkriminalität zu bekämpfen. Und sie ist auch dafür, die Strafen für Schwangerschaftsabbruch abzuschaffen. Einer ihrer Vizeminister will sich dafür einsetzen, dass endlich das Verschwinden von 43 Studenten in Ayotzinapa aufgeklärt wird, das weltweit Aufsehen erregt hatte. Der Außenminister plant eine Zusammenarbeit mit den USA und Kanada, um die Ursachen der Massenauswanderung aus Zentralamerika zu beseitigen. Im Parlament ist die Mehrheit ohnehin auf AMLOs Seite.

Seine Vision verspricht viel, aber die Mittel, sie umzusetzen, sind beschränkt. Vor allem das Finanzministerium zeigt Grenzen des Realisierbaren auf. Ein großer Teil der Bevölkerung wird seine Erwartungen schon bald herunterschrauben müssen. AMLO und sein Projekt wollen Geschichte schreiben; er muss Resultate vorweisen, damit man ihm glaubt, dass seine Vision am Ende nicht nur eine Halluzination gewesen ist - und dass das Wagnis von mehr Demokratie nicht dazu führt, dass am Ende weniger Demokratie übrig bleibt.

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