Nach Straßburg:Das Wort "Terrorismus" gehört auf den Müllhaufen

  • Der Begriff "Terror" beschreibt - aus Sicht derjenigen, die ihn anwenden - in aller Regel etwas Negatives. Allerdings galt er etwa in der französischen Revolution als nötig, um der Tugend zu ihrem Recht zu verhelfen.
  • Heute verspricht er bloß noch eine Trennung zwischen "denen" und "uns", die es längst nicht mehr gibt.

Von Sonja Zekri

Der "Islamische Staat" hat es diesmal ganz langsam angehen lassen. Chérif Chekatt war bereits ein paar Stunden tot, als die Terrormiliz am Donnerstagabend ihre Botschaft an die Welt schickte: Der Attentäter von Straßburg, der mindestens drei Menschen getötet hatte, sei ein "Soldat" des IS gewesen. Davor war er, wie man weiß, zwar noch einiges andere: fragmentarisch beschulter Jugendlicher, Dieb, Einbrecher, verurteilter Krimineller. Aber jetzt: IS-Kämpfer, "Terrorist", wie Straßburgs Bürgermeister Roland Ries ihn nannte. Chekatts letztes großes Ding war ein terroristischer Akt, jüngstes Kapitel im Kontinuum eines Jahrhundertverbrechens.

Diese Zuordnung ist - neben vielem anderen - ein ganz anderes Kaliber als Chekatts Knastschlägereien. Nur - was beschreibt sie? Und was verschweigt sie?

Zunächst das Naheliegende, sie beschreibt - aus der Sicht derjenigen, die sie anwenden - in aller Regel etwas Negatives, Verabscheuungswürdiges, zutiefst Unmoralisches. Das bedarf der Erwähnung, denn der Terror hatte nicht immer einen schlechten Ruf. In der Französischen Revolution war für den Wohlfahrtsausschuss um den neuerdings in Frankreich wieder sehr populären Maximilien de Robespierre "Terror" eben jener Schrecken, den die Revolution benötigte, um der Tugend zu ihrem Recht zu verhelfen und die Bürger zu schützen, eine besonders zügige und unbestechliche Gerichtsbarkeit, ja, so Robespierre, selbst "Ausfluss der Tugend". Und sogar der Demokratie.

In der jungen Sowjetunion hießen Kinder "Elektrifikazija", aber eben auch: "Terrora"

Inspiriert von diesem Gedanken bekannte sich auch Lenin früh zum Terror als politischem Instrument, das Dekret über den "Roten Terror" sollte 1918 die Bourgeoisie als Klasse vernichten und selbstverständlich alle weiteren Saboteure des Sozialismus wie Popen, Kulaken oder Konterrevolutionäre gleich mit. Die Gerichte, so schrieb Lenin 1922, sollen den Terror keineswegs beenden, sondern "begründen und legalisieren". Was sie taten.

Unter den Neugeborenen der jungen Sowjetunion schlug sich diese Doktrin in einer ganzen Generation von Kindern mit aussagekräftigen und ideologisch einwandfreien Namen nieder. Russische Eltern - bedacht, ihre Loyalität zu demonstrieren - wählten nicht nur Namen nach bolschewistischen Modebegriffen - "Elektrifikazija", "Proletarskaja Rewoluzija" -, sondern man fand auch die eine oder andere kleine "Granata" oder eben "Terrora".

Für die Untersuchung der europäischen Tatorte ist dies, zugegeben, von begrenztem Aussagewert, streift aber bereits die heikle Beziehung des Staates zum Terror und zum Terrorismus. Klärender, zumindest auf den ersten Blick, scheinen die gängigen Terrorismus-Definitionen der Vereinten Nationen, der Europäischen Union oder mancher der inzwischen sehr zahlreichen Terrorismus-"Experten". Die UN etwa sprechen von Straftaten, die "mit dem Ziel begangen werden, die ganze Bevölkerung, eine Gruppe von Personen oder einzelne Personen in Angst und Schrecken zu versetzen, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder eine Regierung oder eine internationale Organisation zu einem Tun oder Unterlassen zu nötigen."

Ohne Zweifel: Einiges lässt sich auf den Straßburger Attentäter problemlos anwenden. Wozu schießt jemand um sich in einer Stadt in Weihnachtsstimmung, wenn er nicht "Angst und Schrecken" verbreiten möchte. Aber der zweite Teil? Die Nötigung einer Regierung?

Auch die Europäische Union benennt - neben deutlich detaillierter geschilderten Taten wie "Kapern von Luft- und Wasserfahrzeugen" oder "Herbeiführen von Bränden, Überschwemmungen oder Explosionen" - als Ziel des Terrorismus die Einschüchterung der Bevölkerung oder die Nötigung öffentlicher Stellen oder einer internationalen Organisation", etwas zu tun oder zu lassen. Eine Absicht der Terroristen könne aber auch darin bestehen, die "Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören".

Abu Musab al-Suri würde dem sicher zustimmen. Geboren im syrischen Aleppo, wurde Mustafa Setmariam Nasar, wie er richtig heißt, später spanischer Staatsbürger, lebte in Großbritannien, wird derzeit in einem syrischen Gefängnis vermutet und gilt - nach dem Ägypter Sajjed Qutb und dem Palästinenser Abdullah Assam als aktuell einflussreichster Ideologe des Dschihadismus. Bereits 2005 - damals noch für al-Qaida - entwarf er auf 1500 Seiten den Leitfaden für die jüngste Generation von Attentätern: nicht mehr als verschworene Kampfgemeinschaft wie die arabischen Afghanistankämpfer, nicht mehr die präzise planenden Zellen für Schläge gegen Amerika, sondern als Netzwerke, die auf Europa, den "weichen Bauch des Westens" zielen, um es von innen auszuhöhlen.

Oft dient der Vorwurf des "Terrorismus" Regierungen als Vorwand, um ihrerseits Terror zu verüben

Der sorgfältig ausgebildete Ingenieur? Ein Auslaufmodell. Suri sprach die Verirrten und Marginalisierten an, Analphabeten, psychisch Kranke, Treibgut der europäischen Gesellschaften. Chekatt war ein idealer Kandidat. Dem IS, seines einst eindrucksvollen Territoriums beraubt, muss diese Strategie ortloser, also: ubiquitärer Mobilisierung wie ein Geschenk des Himmels erscheinen.

Europa hat die Sprache der Gewalt verlernt. Darum wird es von der Welt beneidet

Selbstverständlich hätte Chekatt sich nicht als Terrorist bezeichnet. Das tut - Robespierre hin, Lenin her - keiner mehr gern. Terrorismus als Beschreibung für das Motiv von Handlungen ist eine Zuschreibung, das Etikett von anderen, in aller Regel eines Staates und seiner Geheimdienste. Die kurdische PKK, die palästinensische Hamas, die libanesische Hisbollah mögen in den Dossiers des Westens Terrorgruppen sein. Für die Mehrzahl der Kurden, Palästinenser, Libanesen sind sie Widerstandskämpfer, die einem Staat entgegentreten, der Unrecht verübt.

Und wie oft dient der Vorwurf des "Terrorismus" Regierungen auch nur als Vorwand, um ihrerseits Terror zu verüben? Wladimir Putin nutzte eine Serie von Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser in Russland als Vorwand für den zweiten Tschetschenienfeldzug - und die Festigung seiner Macht. Wenn der ägyptische Präsident Abdel Fatah al-Sisi Zehntausende einkerkert, tut er dies selbstverständlich im Namen des "Kampfes gegen den Terrorismus".

Für Diktaturen ist "Terrorismus" eine erprobte Rechtfertigung, für Demokratien eine ständige Versuchung. Kein Geheimdienst der Welt kann darauf verzichten, den Terrorismusbegriff möglichst weit und möglichst wolkig auszulegen. Was also taugt er noch? Sollte man nicht besser ganz auf einen Begriff verzichten, der sich so leicht missbrauchen lässt? Vielleicht. Aber nicht, ohne ihn ganz zu begreifen. Der Nachdruck, den die Definitionen auf die mögliche Beeinflussung von Staaten legen, lässt sich nämlich auch anders begreifen: All die schreckenerregenden Videos, die Tweets und Posts, und, ja, auch die Anschläge selbst sind Botschaften an ein "Zielpublikum", wie der schottische Terrorismusforscher Bruce Hoffman es nennt, mithin: Kommunikation.

Das ist für Europa ein Problem. Der Kontinent - beschenkt mit Jahrzehnten fast ununterbrochenen Friedens - hat nicht nur Gewalt als Mittel politischer Auseinandersetzung geächtet, sondern ein Verständnis für die Sprache der Gewalt gleich mit. Nach den Exzessen des vergangenen Jahrhunderts wird Gewalt nicht mehr als soziale Konstante behandelt, sondern als das schlechthin Unbegreifliche, "Unfassbare", das Kranke, kurz, ganz andere.

Diese Verständnislosigkeit ist ein Mangel, um den die Welt Europa beneidet, aber auch einer, den es sich nicht mehr leisten kann. Die Gewalt ist zurückgekehrt und sie bedarf nicht der Empörung, sondern der Beschreibung. Der Alles- und-nichts-Begriff "Terrorismus" hilft dabei nicht, denn er verspricht eine Trennung zwischen "denen" und "uns", die es längst nicht mehr gibt. Deshalb: auf den Müllhaufen der Debatte damit.

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