Bootsflüchtlinge:Auch im Mittelmeer gilt das Recht

Bootsflüchtlinge im Mittelmeer

Bootsflüchtlinge aus Afrika und Asien sitzen auf einem Holzboot im Mittelmeer vor der libyschen Küste

(Foto: dpa)

Die Europäische Menschenrechtskonvention ist keine Frage der Moral - die Konvention ist bindend. Warum es ein klarer Rechtsverstoß ist, wenn Italien die libysche Küstenwache aktiviert, um Flüchtlingsschiffe nach Libyen zu bringen.

Gastbeitrag von Roya Sangi

Hinter ihm die Hölle, vor ihm das Mittelmeer: Der Flüchtling auf dem Weg nach Europa. Fern am Horizont erscheint ihm Europa, der langersehnte Raum der Freiheit, der Sicherheit - und auch der Raum des Rechts?

Die Tragödien auf den Routen zwischen Libyen, der Türkei, Griechenland, Italien und Malta haben längst einen anderen Raum erkennen lassen: jenen des Versagens, der Lethargie. In den Bildern der gestrandeten Leichname der Flüchtlinge zeigte sich die Diskrepanz zwischen dem menschenrechtlichen Anspruch der europäischen Regierungen und der Wirklichkeit an den Grenzen. Die private Seenotrettung war die starke Antwort der Zivilgesellschaft auf dieses Vakuum. Doch sie musste ihre Segel streichen.

Der raue Wind einer populistischen Abschottung - von Schweden bis nach Italien - hat einmal mehr seine Wirkmächtigkeit gezeigt und die einstige Willkommenskultur vermeintlich offener Gesellschaften vorläufig beendet. Die Mechanismen der Abschottung sind rigide und perfide: Italien hat seiner eigenen Küstenwache untersagt, aus Seenot geborgene Flüchtlinge an Land zu lassen, sofern sich nicht auch andere EU-Staaten an der Aufnahme beteiligen.

Mehr als 1000 Ertrunkene in den letzten Monaten - ein humanitäres Desaster

Notrufe, welche die italienische Rettungsleitstelle von Flüchtlingsbooten oder anderen Schiffen empfängt, werden nicht etwa an jene weitergegeben, die zur Hilfe bereit und imstande wären, schon gar nicht werden eigene Rettungsmaßnahmen eingeleitet.

Stattdessen werden die Hilfesuchenden selektiv weiterverwiesen an die libysche Küstenwache oder an die inzwischen existierende libysche Rettungsleitstelle, die nicht den Eindruck erweckt, willens oder in der Lage zu sein, rechtzeitig Hilfe zu leisten. Inzwischen bestätigen zahlreiche offizielle Berichte die brutalen Einsätze der libyschen Küstenwache im Mittelmeer sowie die katastrophalen Verhältnisse in libyschen Flüchtlingslagern.

Allein in den vergangenen Monaten zählt die UN-Statistik mehr als 1000 ertrunkene Menschen. Das ist ein humanitäres Desaster - aber auch ein Bruch des Rechts, insbesondere der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Wenn Italien Informationen an Libyen weiterleitet, um möglicherweise in Not geratene Flüchtlingsschiffe von der libyschen Küstenwache nach Libyen zurückführen zu lassen, ist dies ein klarer Verstoß gegen das Verbot der Kollektivausweisung und das Refoulement-Verbot. Hiernach ist den Vertragsstaaten verboten, Flüchtlinge in Staaten abzuschieben, in denen sie Folter oder unmenschlicher Behandlung ausgesetzt wären.

Denjenigen, die überleben, droht aber gerade - ohne die Chance auf eine rechtsstaatliche Prüfung, ob sie asylberechtigt sind oder nicht - die Rückkehr in ein Land, in dem sie Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Die Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention sind gegenüber allen ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Personen verpflichtet, die von der Konvention geschützten Menschenrechte einzuhalten.

Offenkundig machen Italien und Libyen gemeinsame Sache

Hoheitsgewalt ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg keineswegs nur territorial zu verstehen. Die Konvention ist vielmehr unabhängig vom Aufenthaltsort des Betroffenen anwendbar, wenn über die betreffenden Personen faktisch oder von Rechts wegen staatliche Kontrolle ausgeübt wird.

Von Rechts wegen wird Kontrolle nicht nur dann ausgeübt, wenn Schiffe involviert sind, welche die Flagge eines Vertragsstaates führen, sondern auch dann, wenn ein Staat jenseits seiner Grenzen aufgrund eines Abkommens oder im Einvernehmen mit einem anderen Völkerrechtssubjekt staatliche Kontrolle ausübt.

Roya Sangi

Roya Sangi, 33, ist Rechtsanwältin für Europa- und Völkerrecht in Berlin. Sie studierte Rechtswissenschaft und politische Philosophie in Teheran, Hamburg und Barcelona. Sie hat NGOs zu Fragen privater Seenotrettung beraten.

(Foto: privat)

Italien hat mit der libyschen Regierung im Jahre 2017 mehrere Vereinbarungen und ein "Memorandum of Understanding" abgeschlossen. Zweck dieser Vereinbarungen ist es, die Kooperation der beiden Länder auf dem Gebiet der Bekämpfung der illegalen Immigration zu verstärken.

Es ist offenkundig, dass Italien und Libyen hier gemeinsame Sache machen, das heißt, sie legen in wechselseitiger Verantwortung den Schleppern das Handwerk und versuchen, Bootsflüchtlinge mit aller Macht zurückzuweisen und zurückzuhalten.

Schon dies spricht dafür, dass sich Italien das Handeln der libyschen Küstenwache jedenfalls dann von Rechts wegen zurechnen lassen muss, wenn diese im Einvernehmen mit Italien außerhalb der eigenen Hoheitsgewässer agiert. Aufgrund dieser Kooperation kommen in der Tat immer weniger Flüchtlinge übers Mittelmeer nach Italien.

Die libysche Küstenwache als verlängerter Arm der Italiener

Darüber hinaus unterstehen die Flüchtlinge oft auch faktisch der Hoheitsgewalt Italiens. Dies ist der Fall, wenn italienische Schiffe aufgrund örtlicher Nähe zu den Flüchtlingen schneller als die libysche Küstenwache in der Lage sind, Hilfe zu leisten. Doch auch wenn kein italienisches Schiff in der Nähe ist, kann italienische Hoheitsgewalt ausgeübt werden.

Denn Italien kennt im Zweifel als einziger Staat den Standort eines Bootes und verfügt damit über überlegenes Wissen, das - zumindest de facto - eine Kontrolle über das Flüchtlingsboot begründet. Durch die selektive Weitergabe dieser Information werden die Betroffenen zielgerichtet und effektiv der Hoheitsgewalt Libyens ausgeliefert. Sie haben keine Möglichkeit, sich dem zu entziehen. Auch die zivile Seenotrettung wird damit zu Fall gebracht.

Schließlich ist auch unter dem Gesichtspunkt des Umgehungsverbots die italienische Hoheitsgewalt anzunehmen. Denn die Konvention kann nicht in einer Weise ausgelegt werden, die es einem Vertragsstaat erlaubt, andere tun zu lassen, was ihm selbst verboten ist.

Genau eine solche Umgehung unternimmt Italien aber, wenn es die libysche Küstenwache als seinen verlängerten Arm veranlasst, Flüchtlinge zurückzuführen, anstatt sie - was mit der Konvention eindeutig unvereinbar wäre - mit eigenen Schiffen nach Libyen zurückzubringen.

Auch bevor ein Mensch eine Grenze überschreitet, bewegt er sich nicht in einer rechtlichen Grauzone. Staatliche Maßnahmen, die dem Überschreiten der Grenzen vorgelagert sind, müssen mit dem Schutzregime der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar sein. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist kein bloßer moralischer Anspruch der offenen Gesellschaften, ebenso wenig wie der Straßburger Gerichtshof die ethische Instanz für das Gewissen des Abendlands ist.

Vielmehr ist die Konvention Bestandteil der demokratischen Rechtsordnung, und der Gerichtshof ist ein Gericht, das unmittelbar verbindlich Recht spricht. Mögen diejenigen erstaunen, die mit Begriffen wie "Herrschaft des Unrechts" unverantwortlich ein Klima der Angst zu evozieren versuchen: Diese Rechtsordnung räumt auch einem Flüchtling Rechte ein.

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