Neuer Roman von Dörte Hansen:Wer "Altes Land" mochte, wird "Mittagsstunde" lieben

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In dem Dorf, von dem sie erzählt, gibt es die Liebe zum Wilden Westen, aber den Wilden Norden gibt es nicht: Dörte Hansen im Alten Land. (Foto: Axel Heimken/dpa)
  • In ihrem zweiten Roman "Mittagsstunde" erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden des fiktiven Dorfes Brinkebüll.
  • Nach und nach lernt der Leser die verschrobenen Bewohner mit all ihren Macken kennen.
  • "Mittagsstunde" ist eher ein Herkunfts- als ein Heimatroman - und ein Roman über die Frage, wohin der Mensch gehört.

Von Jörg Magenau

Es war einmal eine Zeit, in der die Menschen sich mittags hinlegten. Die Stunden zwischen zwölf und zwei waren heilig. Nach dem Essen ruhte der Mensch, denn er war ja zeitig aufgestanden - vor allem im Dorf, als es dort noch Bauern gab, die in aller Herrgottsfrühe ihre Kühe melken mussten. Von so einem Dorf und vom Verschwinden nicht nur der Ruhezeiten erzählt Dörte Hansen in ihrem zweiten Roman "Mittagsstunde". Das fiktive Örtchen Brinkebüll hatte einst alles, was ein Dorf auszeichnete: Kirche, Schule, Laden, Gasthaus, Kastanienallee, Hecken und Wiesen und Wälder. Doch innerhalb weniger Jahrzehnte verwandelte es sich in eine bequem mit dem Auto zu erreichende Schlafstätte für Zugezogene. Und zugleich verschwand die Mittagsruhe mit all ihren Herrlichkeiten und Heimlichkeiten.

Brinkebüll liegt in Nordfriesland, der Heimat von Dörte Hansen. Vor drei Jahren ist ihr mit ihrem Debütroman "Altes Land" ein sensationeller Bestseller gelungen. Wer "Altes Land" mochte, wird "Mittagsstunde" lieben und zwar weit über Nordfriesland hinaus. Zwar sprechen die Menschen im Roman ausgiebig Platt und lieben ihre spröde, windige Heimat. Aber zugleich ist Brinkebüll überall, weil alle deutschen Dörfer in Nord und Süd und West und Ost ein ähnliches Schicksal erlitten haben. Das Dorf ist der eigentliche Hauptdarsteller in diesem Roman. "Mittagsstunde" setzt Mitte der Sechzigerjahre ein, als die Landvermesser kamen, um die große Flurbereinigung vorzubereiten. Aus kleinen Feldern wurden riesige Ackerflächen, die keinen Platz mehr für Hecken und Hasen übrig ließen. Die Störche blieben weg, und wenig später wurde aus dem holprigen Kopfsteinpflasterweg eine breite, asphaltierte Straße, auf der Kinder überfahren wurden und Jugendliche mit Vaters Auto auf dem Weg von der Disco tödlich verunglückten.

Durch diesen Wandel hindurch klappert mit ihren Klapperlatschen eine leicht verrückte, ganz in ihre Gedanken versunkene, nicht ansprechbare Frau. Marret Feddersen ist die Tochter von Sönke und Ella Feddersen, die die Gastwirtschaft betreiben. Sie sammelt Federn, Steine, Baumrinden und tote Tiere, singt und summt die ganze Zeit vor sich hin und schwadroniert unentwegt vom Weltuntergang. Überall sieht sie dunkle Zeichen, denn ihre Welt geht ja wirklich unter, unaufhaltsam, bis auch für sie, die alle im Dorf nur Marret Ünnergang nennen, kein Platz mehr ist.

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Marret ist siebzehn Jahre alt, als sie schwanger wird. Wer der Vater ist, will oder kann sie nicht verraten, doch wahrscheinlich handelt es sich um einen der drei Landvermesser. Ingwer, der Sohn, den sie zur Welt bringt, wird von den Großeltern Sönke und Ella aufgezogen. Zum Studium verlässt er das Dorf und wird Archäologe in Kiel, lebt dort in einer Wohngemeinschaft mit einer Frau und einem Mann zusammen, eine Lebensform, die im Dorf allenfalls Kopfschütteln hervorruft. Ingwer ist bald 50, als er beschließt, für ein Jahr nach Brinkebüll zurückzukehren, um den altersschwachen Großvater und die demente Großmutter zu pflegen. Damit setzt der Roman ein.

In stetem Wechsel von Kapitel zu Kapitel erzählt Dörte Hansen aus dieser Gegenwart und der Vergangenheit des Dorfes. Nach und nach lernt man sie alle kennen, die verschrobenen Bewohner mit ihren Macken: die Bäckerstochter, die immerzu liest, sogar hinterm Verkaufstresen, wenn sie mit einer Hand die Brötchen einpackt und in der anderen das Buch hält. Den Dorfschullehrer Steensen, der rustikale Erziehungsmethoden bevorzugt. Oder Heiko Ketelsen, der als Kind nicht der Schlaueste gewesen ist, der aber ein Herz hat und vor allem eine Vorliebe für den Wilden Westen. Das Dorf ist eine große Familie. Ein Dorfroman ist von daher so etwas Ähnliches wie ein Familienroman. Auch hier kennt jeder jeden von klein auf bis ins hohe Alter und weiß mehr über alle anderen als über sich selbst. Den Erfolg von derlei Dorffamilienliteratur beweist derzeit auch Robert Seethaler mit dem Bestseller "Das Feld".

Jedes Kapitel in "Mittagsstunde" ist mit einem Schlager- oder Songtitel überschrieben. Ingwer, die Hauptfigur, liebt vor allem Neil Young. Aufgewachsen aber ist er mit der Musikbox im Gasthof, aus der "Schuld war nur der Bossa Nova", "Wir wollen niemals auseinandergehn" oder "Junge, komm bald wieder" dröhnte. Die Ohrwürmer stehen für alles, was sich in Ingwer über Jahrzehnte hinweg festgesetzt hat. Sie stehen dafür, wie die Herkunft einen Menschen prägt und ihn nicht mehr loslässt, auch wenn er längst in ganz anderen Zusammenhängen lebt. Auch davon, ja davon vor allem, handelt "Mittagsstunde", eher ein Herkunfts- als ein Heimatroman, wie die Autorin sagt. Und ein Roman über die Frage, wohin der Mensch gehört.

Von der Modernisierung der Dörfer und der Automobilisierung des Landes hat bisher vor allem Peter Kurzeck aus hessischer Perspektive erzählt. Neben ihm ist Dörte Hansen eine konventionelle, vergleichsweise brave Erzählerin, angesiedelt irgendwo zwischen Dora Heldts Nordsee-Familienidyllen, die aber sehr viel romantischer sind, und Juli Zehs Dorfroman "Unterleuten", der politisch ambitionierter ist. Dörte Hansen kann man allenfalls vorwerfen, dass man ihr nichts vorwerfen kann. Gegen jeden Kitschverdacht ist sie ebenso erhaben wie gegen den neuzeitlichen Naturtrend der Großstädter, die das Land verklären, weil sie es nicht kennen.

Dörfer wie Brinkebüll sind heute längst in der Epoche der Renaturierungen angekommen, wo die begradigten Flüsse und Bäche wieder ihre Kurven zurückerhalten und auch das Storchennest wieder aufs Kirchdach gesetzt wird. Und doch suchen die Städter auf dem Land gerade das, was es dort nicht mehr gibt. In dieser Spannung zwischen Untergang und Sehnsucht nach dem Verlorenen ist "Mittagsstunde" angesiedelt. Der Blick geht zurück, aber im Wissen darum, dass es so, wie es war, nicht weitergehen konnte. Die Moderne kam mit aller Gewalt, aber mit den alten Misthaufen und der Mühsal der Feldarbeit konnte man auch nicht einfach so weitermachen. Im alten Dorf war es eng. Nur für die Verrückten, die Wunderlichen und die Sonderlinge gab es Platz genug. Sie sind verschwunden wie Marret Ünnergang. Und deshalb gibt es nun diesen erfreulich unsentimentalen, allenfalls leise melancholischen, nüchtern erzählten Roman, der ihrer aller gedenkt.

Dörte Hansen: Mittagsstunde. Roman. Penguin Verlag, München 2018. 320 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 18.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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