Fälschungen beim "Spiegel":Reporter erfand und manipulierte vorsätzlich eigene Artikel

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Eine Kommission aus internen und externen Personen soll beim Spiegel nun Hinweisen auf Fälschungen nachgehen. (Foto: imago/Lars Berg)
  • Claas Relotius hat als Redakteur beim Spiegel in großem Umfang eigene Geschichten manipuliert.
  • Das Nachrichtenmagazin legte das am Mittwoch selbst offen und richtet eine Kommission zur Aufarbeitung der Fälschungen ein.
  • Relotius hatte auch im SZ Magazin zwei Interviews veröffentlicht. Deren Wahrheitsgehalt werde derzeit geprüft, sagt Chefredakteur Timm Klotzek.

Von David Denk

Wenn der Spiegel Journalisten anderer Medien um kurz nach zwölf Uhr eine Einladung zum Hintergrundgespräch am selben Tag um 14 Uhr schickt, dann muss etwas Wichtiges vorgefallen sein. Und so war es auch. Aber ganz anders, als sich das die Eingeladenen vorgestellt haben. Zuvor informierten an diesem Mittwoch um 12.30 Uhr Chefredaktion und Geschäftsführung die eigenen Mitarbeiter im Atrium des Spiegel-Gebäudes darüber, dass ein Reporter des Hamburger Nachrichtenmagazins in großem Umfang eigene Geschichten manipuliert hat. Claas Relotius hat die Fälschungen zugegeben und das Haus verlassen.

Bevor der 33-Jährige vor eineinhalb Jahren Redakteur im Spiegel-Gesellschaftsressort wurde, war er freier Journalist, sodass auch zahlreiche weitere Medien betroffen sein können. Relotius schrieb seit 2011 knapp 60 Texte für den Spiegel und Spiegel Online und veröffentlichte zum Beispiel 2015 auch zwei Interviews im Magazin der Süddeutschen Zeitung. "Wir prüfen den Wahrheitsgehalt in beiden Fällen derzeit", sagt dessen Chefredakteur Timm Klotzek. "Die Texte werden ins Englische übersetzt und den damaligen Interviewpartnern zur Überprüfung vorgelegt."

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Auch das "SZ-Magazin" hat im Jahr 2015 zwei manipulierte Interviews von Claas Relotius veröffentlicht, der umfangreiche Fälschungen im "Spiegel" eingestanden hat.

Erst am 3. Dezember war Relotius für eine Spiegel-Geschichte mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnet worden: "Ein Kinderspiel" erzählt von einem syrischen Jungen, der im Glauben lebt, durch einen Streich den Bürgerkrieg im Land mit ausgelöst zu haben. Die Jury, besetzt mit wichtigen Journalisten des Landes, würdigte damit einen Text "von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offenlässt, auf welchen Quellen er basiert." Ein Halbsatz, der am Mittwoch in sich zusammengefallen ist - auch wenn das ganze Ausmaß der Manipulationen noch nicht bekannt ist und Relotius zwischen den Fälschungen offenbar auch handwerklich einwandfreie Geschichten veröffentlicht hat. Die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen. Am Mittwoch teilte das Reporter-Forum prompt mit: "Wir sind entsetzt und wütend über die geradezu kriminelle Energie, mit der Claas Relotius auch uns getäuscht hat - die Organisatoren des Deutschen Reporterpreises, die Jurorinnen und Juroren, die ihm insgesamt vier Mal diese Auszeichnung verliehen haben." Die Jury berate zeitnah, ob Relotius seine vier Reporterpreise aberkannt würden.

Der Spiegel ging am Mittwoch in die Offensive, indem er parallel zur Mitarbeiterversammlung eine umfangreiche Rekonstruktion von Ullrich Fichtner, designiertes Mitglied der Chefredaktion und selbst weitgereister und vielbepreister Reporter, sowie "die Antworten auf die wichtigsten Fragen" ins Netz stellte. Demnach ist es Relotius' Kollegen Juan Moreno zu verdanken, dass der systematische Betrug aufflog.

Bei der gemeinsamen Recherche zu "Jaegers Grenze", einer Reportage über eine US-Bürgerwehr an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, erschienen im November, wurde Moreno misstrauisch und schilderte den verantwortlichen Redakteuren seine Bedenken. "Anfangs rannte er gegen Wände wie ein Whistleblower, dem nicht geglaubt wird", schreibt der Spiegel selbstkritisch. Ende vergangener Woche gab Relotius schließlich zu, ganze Passagen frei erfunden zu haben, nicht nur in "Jaegers Grenze". Während seines Geständnisses am Donnerstag sagte er wörtlich: "Es ging nicht um das nächste große Ding. Es war die Angst vor dem Scheitern." Und "mein Druck, nicht scheitern zu dürfen, wurde immer größer, je erfolgreicher ich wurde". Seinen Angaben zufolge sind mindestens 14 Texte betroffen und zumindest in Teilen gefälscht. Relotius habe "beispielsweise viele der Protagonisten nie getroffen oder gesprochen, von denen er erzählt und die er zitiert", schreibt der Spiegel.

Eine zentrale Frage, die Ullrich Fichtner in seiner Rekonstruktion und auch die Kollegen in der Redaktion umtreibt, ist, wie vorsätzliche Täuschungsmanöver dieser Dimension ausgerechnet beim Spiegel, der sich einer intensiven Faktenprüfung durch seine Dokumentations-Abteilung rühmt, möglich waren. "Dass es Relotius gelingen konnte, jahrelang durch die Maschen der Qualitätssicherung zu schlüpfen, die der Spiegel in Jahrzehnten geknüpft hat, tut besonders weh, und es stellt Fragen an die interne Organisation, die unverzüglich anzugehen sind", schreibt Fichtner. "Nicht verhindert zu haben, dass die seit 1949 im Spiegel-Statut verbrieften Werte des Hauses in derart flagranter Weise verletzt werden, verursacht einen stechenden Schmerz, und das ist nicht nur hingesagt." Die Leitung des Spiegels kündigte an, eine Kommission aus erfahrenen internen und externen Personen einzusetzen, die den Hinweisen auf Fälschungen nachgehen sollen. Wie schon die am Mittwoch veröffentlichten Erkenntnisse soll die Kommission auch alles weitere öffentlich aufarbeiten und die Sicherheitsmechanismen beim Spiegel verbessern.

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