Spiegel:Im Schockzustand

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Die Affäre um gefälschte Reportagen trifft das Nachrichtenmagazin mitten im größten Umbau seiner Geschichte - und sie wirft eine Vielzahl äußerst dringlicher Fragen zur Verantwortung innerhalb der Redaktion für den Fall auf.

Von David Denk

Es ist Kern der Jobbeschreibung von Chefredakteuren, Verantwortung zu übernehmen für ihre Mannschaft und das gemeinsam erarbeitete journalistische Produkt - in guten wie in schlechten Zeiten. Steffen Klusmann und der Spiegel erleben gerade sehr schlechte Zeiten - und das noch bevor Klusmann, 52, im Januar als Chefredakteur offiziell antritt. Die massiven Fälschungen und Manipulationen des Reporters Claas Relotius, 33, die das Magazin am Mittwoch offenlegte, fallen noch in die Zeit diverser Vorgänger. Doch nun sind sie nicht deren Problem, sondern Klusmanns.

Trotzdem ist Klusmann mit seinem entschiedenen Auftritt am Mittwoch nicht zum ersten Mal in neuer Funktion in Erscheinung getreten, was daran liegt, dass dem Spiegel mit der Fusion von Print- und Online-Redaktion 2019 der wohl größte Umbau seiner Geschichte bevorsteht. Der erfahrene Redaktionsmanager Klusmann ist das Gesicht dieses Wandels.

SZ MagazinIn eigener Sache
:SZ-Magazin vom Fall Relotius betroffen

Auch das "SZ-Magazin" hat im Jahr 2015 zwei manipulierte Interviews von Claas Relotius veröffentlicht, der umfangreiche Fälschungen im "Spiegel" eingestanden hat.

Nun kommt eine weitere Herkulesaufgabe hinzu: den Glaubwürdigkeitsverlust durch eine möglichst schonungslose Aufarbeitung zu minimieren. Insbesondere in den sozialen Medien werde diese "überwiegend positiv" bewertet, antwortete der Spiegel am Donnerstag auf eine SZ-Anfrage. Es gebe "sehr viele Zuschriften", aber "bisher kaum anlassbezogene Kündigungen" von Abos. Am Mittwoch wurde die Besetzung der Kommission publik, die das Systemversagen untersuchen und Verbesserungsvorschläge erarbeiten soll. Zu Stefan Weigel, 54, ab Januar Nachrichtenchef, und Clemens Hoeges, 57, früherer Spiegel-Vize, stößt Brigitte Fehrle, 64, bis 2016 Chefredakteurin der Berliner Zeitung.

Viele Kollegen sorgen sich um den jungen Reporter, zu dem kaum noch jemand Kontakt hat

In der Redaktion herrscht am Tag danach jene Mischung aus Bestürzung und Trauer, die nicht nur in Ullrich Fichtners Mittwochmittag veröffentlichter umfangreicher Rekonstruktion mit einem plötzlichen Todesfall verglichen wird. Relotius sei "einer der nettesten Menschen, die ich in diesem Haus kennengelernt habe", sagt ein Redakteur, der sich wie viele um den jungen Kollegen sorgt, zu dem offenbar kaum noch jemand Kontakt hat. Andere Stimmen im Wirrwarr der Gefühle äußern sich distanzierter, sind verunsichert und wütend , auch weil Relotius sich gegenüber seinem Kollegen Juan Moreno, 46, der ihm auf die Schliche kam, aus Angst vor Enttarnung zutiefst unkollegial, ja geradezu skrupellos verhalten haben soll.

Auch im Hinblick auf den Text von Ullrich Fichtner sind die Meinungen geteilt - aber offenbar stärker in der Branche als in der Redaktion selbst. Kritiker werfen Fichtner Selbstgerechtigkeit vor - und dass er mit seinem so kunstvoll aufgebauten wie erzählten Stück mehr zum Problem als zu dessen Lösung beiträgt. Andere wiederum fanden die Art und Weise der Aufbereitung "richtig und gut". Der Spiegel dürfe die Deutungshoheit in dieser kritischen Lage auf keinen Fall anderen Medien überlassen.

Relotius hat bis zu seiner Kündigung am Montag in der "Gesellschaft" gearbeitet, die in der "Kleinstaaterei" der Spiegel-Ressorts eine Sonderstellung einnimmt, andere sprechen von "einer Art Paralleluniversum innerhalb der Redaktion" - und meinen das Gleiche: Dort werde ein Reporterkult und ein Anspruchsdenken gepflegt, das nicht wenige für den Fall Relotius zumindest mitverantwortlich machen.

Seine vier Reporterpreise hat Claas Relotius inzwischen von sich aus zurückgegeben

Auch Ullrich Fichtner, 53, hat lange in der "Gesellschaft" gearbeitet, davon zwei Jahre als Ressortleiter, der auch den damals noch freien Mitarbeiter Relotius beauftragte. Fichtner sei "einer der am häufigsten ausgezeichneten deutschen Journalisten", heißt es in der Autoren-Kurzbio auf der Website seines Verlags, was den Blick lenkt auf die Bedeutung, die Journalistenpreisen in Hamburg beigemessen wird. Es ist keine Entschuldigung zu schreiben, dass der alleine viermal mit dem Deutschen Reporterpreis ausgezeichnete Relotius seinen journalistischen Vorbildern nacheiferte, aber ein Stück weit liegt die Erklärung für seine Grenzüberschreitungen wohl in dem "Höher, schneller, weiter", das ihm offenbar zumindest in Teilen der Spiegel-Redaktion vorgelebt wurde.

Claas Relotius hat seine Fälschungen mit dem "Druck, nicht scheitern zu dürfen" zu erklären versucht, Ullrich Fichtner schreibt in seiner Rekonstruktion: "Kein Mitarbeiter muss fürchten, und schon gar nicht einer wie Relotius, dass er wegen einer geplatzten Geschichte Ärger bekommt." Es ist dieser Satz, dieses Leugnen von Mitverantwortung, das bei einigen in der Redaktion Zweifel daran nährt, ob einer wie Fichtner, designiertes Mitglied der Spiegel-Chefredaktion, allen journalistischen Qualitäten zum Trotz für diesen Posten die richtige Wahl ist.

Die Hiobsbotschaften rissen indes auch am Donnerstag nicht ab: Mittags meldete Spiegel Online, dass Relotius auch sein Gespräch mit Traute Lafrenz, der letzten Überlebenden der "Weißen Rose", in Teilen erfunden hat. Das Interview war für den Deutschen Reporterpreis 2018 nominiert, mit der Reportage "Ein Kinderspiel" hat er ihn erneut gewonnen. Seine vier Trophäen hat Relotius inzwischen zurückgegeben und sich per SMS bei Preisinitiator Cordt Schnibben, selbst früher Spiegel-Reporter, entschuldigt. So klein ist die deutsche Reporter-Welt: Man kennt sich, man schickt sich SMS.

© SZ vom 21.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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