Schulen:"Absetzbewegung der Mittelschicht"

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Warum boomen Privatschulen gerade im Osten? Ein Gespräch mit dem Bildungsforscher Marcel Helbig.

Interview von Paul Munzinger

SZ: Herr Helbig, in der DDR gab es keine Privatschulen, heute gehen im Osten Deutschlands mehr Kinder auf eine Privatschule als im Westen. Warum sind sie gerade dort so erfolgreich?

Marcel Helbig: Dieser Zuwachs vollzieht sich vor allem in den Städten, und in den ostdeutschen Städten ist die soziale Spaltung in den letzten Jahren deutlich stärker gewachsen als in den westdeutschen: Arme und reiche Menschen leben zunehmend voneinander getrennt. Die Privatschulen befördern das, aber in erster Linie sind sie ein Symptom dieser Entwicklung: In Rostock zum Beispiel befinden sich alle privaten Grundschulen im reicheren Süden. Im Norden, wo die Plattenbauten sind, gibt es keine einzige.

Das deutsche Schulsystem gilt doch ohnehin schon als vergleichsweise selektiv. Reicht das nicht, um sich abzugrenzen?

Man muss genau hinschauen, wo die sozialen Unterschiede sind: nicht an den Gymnasien, da unterscheiden sich öffentliche und private kaum voneinander. Der Boom der Privatschulen und die soziale Selektivität finden an den Grundschulen statt - jenen Schulen also, die eigentlich für alle sein sollen. Das Grundgesetz ist deshalb bei privaten Grundschulen besonders streng, doch die Regel ist vielfach ignoriert worden. Vor allem in Mecklenburg-Vorpommern hat man jedes Augenmaß verloren, die Zahl der privaten Grundschulen ist explodiert.

Können Sie das genauer erklären?

Die meisten privaten Grundschulen wurden im Kontext einer Schulstrukturreform 2006/07 gegründet. Alle Kinder, das war die Idee, sollen zwei Jahre länger gemeinsam lernen, ehe sie aufs Gymnasium wechseln können. Daraufhin haben sich private Schulen gegründet, die nicht nur Grundschulen sind, sondern auch eine gymnasiale Oberstufe haben. Es wurde ein Parallelsystem geschaffen und die Reform systematisch unterlaufen. Das Schulministerium hätte das nie zulassen dürfen.

Marcel Helbig, Professor für "Bildung und soziale Ungleichheit", forscht für die Universität Erfurt und das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. (Foto: Bernhard Ludewig)

Was heißt das in Zahlen?

Drei der vier Städte mit dem höchsten Anteil privater Grundschulen sind Schwerin, Rostock und Greifswald. 25 bis 40 Prozent der Grundschulen sind hier in privater Hand. Auf Platz drei: Potsdam. Die erste Stadt im Westen kommt erst danach - obwohl das System dort nicht 25, sondern 60 Jahre Zeit hatte, sich zu entwickeln.

Eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) hat ermittelt, dass gerade auf Privatschulen im Osten auch das Einkommen der Eltern immer wichtiger wird.

Das überrascht mich nicht. Wir haben es mit einer Absetzbewegung der Mittelschicht von den unteren Schichten zu tun. Die soziale Schere geht im Osten besonders weit auf, weil es vor allem dort an einer Kontrolle der Privatschulen fehlt. Andernorts, in Schleswig-Holstein etwa, wird das Privatschulsystem stärker begrenzt.

Viele Eltern, die ihre Kinder auf Privatschulen schicken, sagen, dass es ihnen nicht um Abgrenzung geht, sondern um pädagogische Angebote, die das staatliche System nicht bietet.

Diese Eltern haben einen verzerrten Blick auf das Schulsystem. Viele öffentliche Schulen haben alternative und moderne Pädagogik längst übernommen. Wenn Privatschulen besseren Unterricht machen können, ist das eine sich selbst erfüllende Prophezeiung: Auf der Schule sind mehr Kinder aus höheren Schichten, die seltener Sprach- oder Verhaltensprobleme mitbringen - also habe ich auch bessere Lernvoraussetzungen. Die Privatschule ist nicht besser, weil sie bessere Pädagogik macht, sondern weil sie die besseren Schüler hat.

Die Eltern wollen eben das Beste für ihr Kind. Kann man ihnen das vorwerfen?

Nein. Man darf das weder den Eltern vorwerfen noch den privaten Schulen. Beide verhalten sich rational. Das Problem ist: Was die Eltern für das Beste für ihr Kind halten, kann Gift für die Gesellschaft sein. Wer etwas tun muss, ist die Politik.

Sie sollte das Schulgeld begrenzen?

Das Problem ist, dass wir häufig gar nicht wissen, was die Privatschulen kosten. In Hessen ist das anders, da hat die Landesregierung 2015 alle Privatschulen gefragt. Das Ergebnis: 18 Prozent nehmen gar kein Schulgeld, etwa die Hälfte nimmt mehr als 200 Euro im Monat, knapp fünf Prozent verlangen über 1000 Euro, Ermäßigungen gibt es meistens nicht. Das ist mit dem Grundgesetz eigentlich nicht vereinbar. Um solche Exzesse in den Griff zu kriegen, sollte man das Schulgeld für die ärmeren Familien begrenzen. Aber das reicht nicht.

Warum nicht?

Nimmt eine Privatschule ein ärmeres Kind an, das vom Schulgeld befreit ist, verliert sie Geld. Warum sollte sie das tun? Berlin will nun nicht nur eine Begrenzung des Schulgelds einführen, sondern auch eine Förderung für Privatschulen, die Kinder aus unteren Schichten aufnehmen. Das wäre endlich ein Mechanismus, der funktionieren könnte. Aber andererseits dürfen wir den Einfluss des Schulgelds auch nicht überschätzen. In Rheinland-Pfalz ist Schulgeld verboten - und trotzdem sehen wir eine ähnlich starke Spaltung an den Grundschulen in Mainz oder Koblenz wie in Berlin, wo wir zum Teil exorbitant hohe Schulgelder haben. Private Schulen werden also auch unabhängig vom Schulgeld zur Flucht aus dem öffentlichen System genutzt.

Was kann die Politik dann überhaupt tun?

Sie muss eigentlich nur das Grundgesetz durchsetzen, vor allem bei den Grundschulen. Das heißt: Nicht jede Gründung einfach durchwinken. Sondern prüfen, ob es diese private Grundschule wirklich braucht. Da sollten sich die Landesregierungen durchaus auch einmal auf einen Rechtsstreit einlassen.

© SZ vom 24.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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