Genießen an Weihnachten:Der Takt der Lust

Genießen an Weihnachten: Als Jesus Wasser in Wein verwandelte und das Fest am Laufen hielt - hier: Michele Damaskinos aus dem 16. Jahrhundert.

Als Jesus Wasser in Wein verwandelte und das Fest am Laufen hielt - hier: Michele Damaskinos aus dem 16. Jahrhundert.

(Foto: Dorotheum)

Wahre Genießer schaffen es auf geheimnisvolle Weise, die Slow-Motion-Taste des Lebens zu drücken, wenn sie sich ihren Leidenschaften hingeben. Ein Plädoyer, es ihnen gleichzutun.

Von Christian Mayer

Honoré de Balzac ist 36 Jahre alt und auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft, als es kein Pardon mehr gibt: Der Lebemann landet im Gefängnis, weil er sich als Bürger der Stadt Paris vor dem Dienst in der Nationalgarde gedrückt hat. Einige Male ist er den Ordnungshütern mit List und Tücke entkommen, doch nun, im April 1836, muss Balzac acht Tage im "Hôtel des Haricots", dem Arrestturm der Nationalgarde, absitzen. Und was macht der berühmteste Schriftsteller seiner Zeit, als er in der Zelle angekommen ist? Er schickt seinen Diener Auguste los, dieser soll seinen Verleger Edmond Werdet verständigen und Geld besorgen. Nicht etwa Bestechungsgeld, um sofort wieder freizukommen, sondern genügend Mittel für einen Festschmaus, der an "alle Traditionen der schönen Lebenskunst" anknüpfen soll, wie er später schreibt.

Essen ist heute auch eine Ideologie, der Nachweis der eigenen Rechtschaffenheit

Der Verleger kennt seinen Starautor, er steckt 200 Francs für die nötigen Einkäufe beim besten Delikatessenhändler von Paris ein, und so tafelt man abends an einem langen Tisch im Refektorium des Gefängnisses, "in ausgelassener Fröhlichkeit", wie Anka Mühlstein in ihrem Buch "Die Austern des Monsieur Balzac" schreibt. Am nächsten Tag erscheint der Verleger erneut im "Hôtel des Haricots"; er findet seinen Autor in seiner Zelle inmitten von Speisen an: "überall Pasteten, getrüffeltes Geflügel, glasiertes Wild, Konfitüren, Körbe mit einem ganzen Sortiment an Weinen". Zu späterer Stunde darf sein Diener Auguste die Herren mit weißen Handschuhen bedienen, schließlich solle sich das Gefängnis "ewig an seinen Aufenthalt erinnern".

Balzac hat Eindruck auf seine Zeitgenossen und die Nachwelt gemacht, als Schöpfer des Romanzyklus "Die menschliche Komödie", als Gesellschaftschronist und als Genussmensch. In atemberaubendem Tempo schrieb er Buch um Buch, und nach jedem Schlusskapitel belohnte sich der stetig an Leibesfülle gewinnende Schriftsteller für seine Mühen: mit Exkursionen in die teuren Pariser Restaurants, Champagnergelagen und Austernschlachten. Immer geht es in seinen Roman auch ums Essen, ums Trinken. Um die Lust an der kulinarischen Inszenierung, die gerade jetzt in der Weihnachtszeit eine große Rolle spielt.

In Zeiten der Selbstoptimierung haben es die Genießer schwerer denn je. Sie dürfen nicht mehr schlemmen wie die Menschen in früheren Jahrhunderten, für die der Genuss immer auch eine Art Belohnung darstellte. Fett, Zucker, zu viel Fleisch, Nikotin und Alkohol werden heute als Bedrohung gesehen. Wer alles richtig machen will, unterwirft sich dem Diktat der Ernährungs- und Fitness-Apps, die bei jedem Bissen Fett- und Kaloriengehalt prüfen. In gewissen Milieus ist das Essen zur Ideologie geworden, zum Nachweis der eigenen Rechtschaffenheit, was sich am deutlichsten im Kult um die vegane Ernährung zeigt, mit der man die Welt, zumindest aber sich selbst retten will.

Auch deshalb ist es für viele Menschen ungewohnt, wenn sie an den Festtagen in fast schon archaische Schwelgereien verfallen: Gans, Ente, Hummer, Raclette oder Fondue, dazu schwere Weine, Liköre und Süßigkeiten gehören zu den Dingen, die man sich lieber verkneift - nur bei wenigen Anlässen verzeiht man sich solche Ausreißer. Die armen Sünder haben spätestens am zweiten Weihnachtsfeiertag wieder ein schlechtes Gewissen und fragen sich, welche Maßnahmen sie im neuen Jahr zur Selbstzucht ergreifen sollen. Manche müssen sich regelrecht zwingen, über die Stränge zu schlagen - "jetzt iss doch mal", hört man dann bei Tisch. Balzac hätte darüber gelacht: Für ihn war das ganze Jahr ein kulinarisches Fest, auch wenn er sich selbst gelegentlich für einen Tag oder zwei Mäßigung auferlegte, um dann umso lustvoller essen zu können.

Aber wie geht das überhaupt: genießen? "Man soll dem Leib etwas Gutes tun, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen", dieser Satz stammt von Winston Churchill. Was dieses Gute sein kann, darüber gehen die Meinungen auseinander, aber auf eines können sich Fleischesser und Veganer, Weinkenner und Wassertrinker wohl einigen: Wer genießen will, muss aus dem üblichen Tagesrhythmus ausbrechen. Genießen kann nur, wer bereit ist, die Dinge auf sich wirken zu lassen. Auch dafür sind das Weihnachtsessen und die Silvesterfeier eine gute Gelegenheit: Man braucht gar kein Feinschmecker-Menü, keine 40-Euro-Weine und keine Hightech-Kaffeemaschinen norditalienischer Bauart, aber zumindest eine liebevoll dekorierte Tafel und eine gesellige Runde, die bereit ist, sich dem Vergnügen hinzugeben - bis irgendwann keiner mehr auf die Uhr schaut.

Das größte Missverständnis: Genuss habe mit Extravaganz zu tun

Vielleicht ist das ja das größte Missverständnis: dass Genuss automatisch etwas mit Extravaganz und Expertise zu tun hat, auch wenn die boomenden "Seminare für Genießer" ambitionierten Hobbyköchen, Weinkennern, Whiskytrinkern und Freizeit-Baristas dies versprechen. Bei den meisten dieser Angebote geht es eher um Distinktion, um eine weitere Form der Selbstoptimierung, die alle Freizeitbereiche durchdringt: Mit dem "Genießer-Diplom" Südtiroler Hotelakademien kann man im Freundeskreis Eindruck machen. Aber der wahre Genuss ist damit nicht garantiert. Selbst wer ganz viel nützliches Wissen über Champagner gesammelt hat, wird nicht unbedingt das Gefühl erleben, das der Benediktinermönch und Champagner-Namensgeber Dom Pierre Pérignon so beschrieben hat: "Brüder, kommt schnell, ich trinke Sterne!"

Für Eckart Witzigmann, der die Sterne-Gastronomie in Deutschland wie kein Zweiter geprägt hat, gehört zu einem schönen Essen eine gewisse kulinarische Qualität, ein stilvoller Rahmen und ein Verständnis für die Produkte, die man verwendet. Das Wichtigste sei aber, nicht in Hektik zu verfallen: "Essen im Gehen ist für mich eine Krankheit", sagt der Koch. Ähnlich erbärmlich ist auch die Angewohnheit, beim Essen zwischen Besteck und Smartphone zu wechseln, ohne Sinn für das, was man vor sich hat. Überhaupt das Multitasking: Hat man jemals einen Menschen gesehen, der im Fitnessstudio auf dem Crosstrainer strampelt, parallel dazu die Börsennachrichten schaut und dabei einen glücklichen Eindruck macht? Das selige Lächeln, das behagliche Seufzen ist dem Genießer, nicht dem Asketen vorbehalten.

Wahre Genießer schaffen es auf geheimnisvolle Weise, die Slow-Motion-Taste des Lebens zu drücken, wenn sie sich ihren Leidenschaften hingeben. Sie finden, was andere vergeblich suchen: Zeit für das Wesentliche, in Gemeinschaft und auch mal alleine. Zeit zum Lieben, Flirten, Essen, Trinken, Baden, Tanzen, Wandern, Musikhören, Kunstbetrachten und Lesen. Das süße Nichtstun eben, das nur deshalb so heißt, weil es nicht aus Arbeit und Mühsal besteht - allein schon deshalb ist Wohlleben gesund, wenn auch nicht ganz im Sinne der Health-Apps. Im Erleben mit allen fünf Sinnen tritt man gewissermaßen in eine andere Sphäre ein: "Genuss weckt die Lebensgeister, ruft die Fantasie wach, holt die Erinnerung zurück, und schon werden beim Wein die Geschichten erzählt, im Bett die Erfahrungen ausgetauscht ...", schreibt Gero von Randow in seinem Buch "Genießen. Eine Ausschweifung". Man sollte nur nicht verschweigen, dass der Ausschweifung manchmal ein böses Erwachen folgt.

Stress und Hektik einerseits, zu viel Selbstkontrolle und Disziplin andererseits: Das sind die Feinde des Genusses. Der österreichische Philosoph Robert Pfaller sieht in der "maßlosen Mäßigung", in der Überhöhung der Askese ein "Merkmal unserer Epoche". Für ihn sind "Bars ohne Tabakkultur, Bier ohne Alkohol, Kaffee ohne Koffein, Schlagsahne ohne Fett, virtueller Sex ohne Körperkontakt" ein Zeichen für die neue Lustfeindlichkeit. "Wir leben in einer Kultur, in der asketisches Verhalten als Zeichen von Höherstellung gesehen wird gegenüber hedonistischem Verhalten." Wer verlernt, gemeinsam ausgelassen und zwanglos zu feiern, verliere etwas wesentlich Menschliches. Zum Lebensgenuss zählt für ihn auch das "problematisch Lustvolle", das potenziell das Leben verkürzt, aber intensiviert. Alkohol müsse sein, wenn es darum geht, zusammen anzustoßen, was mit Mineralwasser oder Multivitaminsaft bei Erwachsenenfesten unpassend und sogar "unhöflich" sei.

Montaigne, im 16. Jahrhundert, über Genüsse: "Man sollte sie willkommen heißen."

Man muss gar nicht so weit gehen wie Pfaller, der in seinen Büchern wie "Wofür es sich zu leben lohnt" provozierend heiter allen Kostverächtern den Kampf ansagt und sogar das Rauchen verteidigt. Doch in einem Punkt hat der Autor recht: Es fällt heute viel schwerer als früher, aus dem streng reglementierten Alltag auszubrechen. In früheren, deutlich langsameren Epochen gab es mehr feierliche Rituale, sakrale Tage und lokale Anlässe, bei denen die Arbeit ruhte. Das Leben war kurz und hart, deshalb ließ man sich die Chance, es sich bei einem opulenten Festschmaus gutgehen zu lassen, nicht entgehen.

Doch die Klage, dass die Gesellschaft immer weniger Zeit für die schönen Dinge des Lebens habe, ist erstaunlich alt. Schon Michel de Montaigne, der im 16. Jahrhundert den "Luxus der einfachen Dinge" propagierte, teilte diesen Befund. "Die alten Griechen und Römer haben es vernünftiger gemacht als wir: Sie widmeten dem Essen (das eine der wesentlichsten Verrichtungen unsres Lebens ist) ... etliche Stunden, ja den besten Teil der Nacht, aßen und tranken weniger hastig, als wir es zu tun pflegen, die wir alles in Windeseile erledigen, und zogen dieses natürliche Vergnügen durch mehr genussreiche Muße in die Länge, indem sie allerlei nützliche und angenehme, der Geselligkeit dienende Unterhaltungen einflochten."

Bei Montaigne findet man das, was die Menschen heute mühsam wieder lernen wollen: eine Anleitung zum Genuss und ein Lob des Müßiggangs. "Man sollte den Lüsten weder nachlaufen noch vor ihnen wegrennen - man sollte sie willkommen heißen", schreibt er in seinen "Essais". Soll heißen: Man muss den richtigen Moment abwarten und ihn dann umarmen. Alles zu seiner Zeit. Man muss sie sich nur nehmen.

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