60 Jahre Nürnberger Kriegsverbrecherprozess:Das erste Weltgericht

Vor dem Internationalen Militärtribunal in Nürnberg begann vor 60 Jahren der Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher.

Peter Reichel

Ein großer Prozess war nicht vorgesehen. Die "Hitler-Bande" sollte keine Gelegenheit bekommen, sich vor der Weltöffentlichkeit darzustellen. Winston Churchill, der britische Premier, wollte "Hitler, Göring, Himmler und andere Ungeheuer" nach ihrer Verhaftung sofort erschießen lassen. Außenminister Anthony Eden hatte schon früher erklärt, die Schuld der Nazi-Verbrecher sei "so abgrundtief, dass kein Gerichtsverfahren ihr gerecht werden" könne. In den USA befürwortete vor allem Finanzminister Henry Morgenthau eine rigide Bestrafungspolitik.

60 Jahre Nürnberger Kriegsverbrecherprozess: Die Hauptkläger der USA und der Sowjetunion, Robert Jackson und Oberst Pokrowsky, während der Verlesung der Urteilsbegündung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß 1946.

Die Hauptkläger der USA und der Sowjetunion, Robert Jackson und Oberst Pokrowsky, während der Verlesung der Urteilsbegündung im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß 1946.

Schließlich setzten sich aber jene durch, die für ein rechtsstaatliches Verfahren eintraten: US-Präsident Harry S. Truman, Kriegsminister Henry Stimson und der frühere Justizminister, Bundesrichter Robert H. Jackson. Auch Stalin wollte ein Strafverfahren. Er dachte dabei aber wohl eher an einen politischen Schauprozess als an einen due process of law im angelsächsischen Verständnis.

Am 8. August wurde das Viermächte-Abkommen über das Internationale Militärtribunal unterzeichnet. Das Gerichtsstatut definierte in seinem zentralen Artikel 6 drei Straftaten: Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Für die Amerikaner hatte die Ächtung des Angriffskrieges Priorität. Die Sowjetunion lehnte eine generelle Kriminalisierung ab. Sie befürchtete, die Angeklagten könnten auf den Hitler-Stalin-Pakt verweisen und dann die Besetzung Ostpolens durch die Sowjetunion zur Sprache bringen. Außerdem wollten die Amerikaner mehrere Verbrechenskomplexe zusammenfassen und dafür den Straftatbestand der kriminellen Verschwörung einführen. Deshalb sollten auch NS-Organisationen als verbrecherisch angeklagt werden.

Den Franzosen und Sowjets ging der amerikanische Ansatz zu weit. So verständigte man sich darauf, den Vorwurf einer Verschwörung allein auf Verbrechen gegen den Frieden zu beziehen. Der Judenmord erschien dadurch nur als Folge von Kriegshandlungen, aber nicht als rassenpolitischer Verbrechenskomplex mit eigener Vorgeschichte, unabhängig von Kriegshandlungen.

Umstritten war auch, wer die Hauptkriegsverbrecher sein sollten. Hitler, Himmler und Goebbels standen nicht mehr zur Verfügung. Die Sowjets wollten mindestens 100 führende Hitler-Faschisten auf die Anklagebank setzen, die Briten hätten sich mit wenigen prominenten Namen begnügt. Für sie und die Amerikaner war besonders wichtig, dass die Angeklagten die NS-Organisationen und Führungsgruppen repräsentierten. So kam eine recht heterogene Liste zustande, mit 24 mehr oder weniger bekannten Namen.

Göring war nach Hitler der "Nazi Nummer eins", wie er sich selbst nannte. Er und Wilhelm Keitel als Chef des OKW standen stellvertretend für Hitler, Ernst Kaltenbrunner für den toten Himmler und den Terrorapparat, Julius Streicher für den radikalen Antisemitismus, die Minister Joachim von Ribbentrop, Alfred Rosenberg, Hans Frank, Wilhelm Frick und Albert Speer für die Reichsregierung, Fritz Sauckel für die Gauleiter. Man wollte auch einen Krupp als Vertreter der Rüstungsindustrie anklagen. Dabei wurden Vater und Sohn verwechselt, so dass der verhandlungsunfähige Gustav Krupp auf die Liste kam.

Dies alles machte die Eröffnungsrede des US-Chefanklägers schnell vergessen. Justice Robert H. Jackson stellte den "Jahrhundertprozess" mit einem durchaus angemessenen Pathos in den allgemeineren Zusammenhang von Recht und Unrecht und von Krieg und Frieden. Er betonte, dass der Verzicht der Sieger, Rache zu nehmen, eines der bedeutendsten Zugeständnisse sei, das "die Macht jemals der Vernunft" gemacht habe.

Ausdrücklich verneinte er eine Kollektivschuld der Deutschen. Ja, er ging so weit zu erklären, dass das Gericht "auch die Aggressionen" der Nationen verurteilen müsse, die "heute hier am Richtertisch sitzen". Dem Amerikaner war ein Makel des Militärtribunals bewusst, die Missachtung des tu-quoque-Grundsatzes. Weder über die Luftbombardements der Alliierten, denen mehr als eine Million deutsche und japanische Zivilpersonen zum Opfer gefallen waren, wurde verhandelt, noch über die Ermordung tausender polnischer Offiziere durch den sowjetischen Geheimdienst.

Außerdem musste sich das Gericht den Vorwurf gefallen lassen, dass es das Rückwirkungsverbot verletze (nulla poena sine lege). Gewiss, es gab zuvor noch keine Strafgesetze gegen Angriffskriege und Menschlichkeitsverbrechen. Andererseits waren seit dem Ersten Weltkrieg und der Gründung des Völkerbunds zahlreiche Schritte auf dem Weg dahin unternommen worden. Auch Deutschland hatte 1929 den Briand-Kellog-Pakt unterzeichnet, mit dem ein weltweites Kriegsverbot ausgesprochen und der Krieg als legitimes Mittel zur Lösung internationaler Streitigkeiten verurteilt wurde. Und in den Rechtsstaaten galt längst unbestritten das, was man das "zivilisatorische Minimum" nennt.

Alle vier Mitglieder des Tribunals - der Vorsitzende, Sir Geoffrey Lawrence für Großbritannien, Francis Biddle für die USA, Henri Donnedieu de Vabres für Frankreich und Iola Nikisenko für die Sowjetunion - verurteilten das NSDAP-Führerkorps, SS und SD/Gestapo als verbrecherische Organisationen. Reichsregierung, SA und das Oberkommando der Wehrmacht wurden gegen das Votum der Sowjetunion freigesprochen. Maßgeblich für die Verurteilung waren allein zwei Kriterien: freiwillige Mitgliedschaft und Kenntnis des verbrecherischen Zieles von Anfang an.

Zehn der Angeklagten (Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner, Rosenberg, Frank, Frick, Jodl, Seyss-Inquart, Bormann in Abwesenheit) wurden einstimmig zum Tode verurteilt, in allen Fällen mindestens wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die beiden gegen Streicher und Sauckel verhängten Todesurteile waren umstritten - wie auch die unterschiedlichen Zeitstrafen gegen Dönitz, Schirach, Neurath und Speer. Ein Beispiel, das für manche Ungereimtheit steht: Speer und Sauckel hatten sich für die Rekrutierung beziehungsweise Beschäftigung von Zwangsarbeitern zu verantworten. Sauckel erhielt die Todesstrafe. Speer entging dem Schafott, wenn auch nur knapp. Er beeindruckte die Alliierten durch sein Auftreten und machte sich als kenntnisreicher Berater in der Schlussphase des Bombenkrieges gegen Japan gar noch nützlich.

An Einzelheiten der Urteilsfindung und der Strafzumessung ist Kritik geübt worden. Aber die Verhandlungen wie die oft kontroversen Beratungen lassen keinen Zweifel, dass dieses erste Weltgericht wie ein ordentlicher Gerichtshof gearbeitet hat. Die herausragende Bedeutung des Nürnberger Prozesses ist heute nicht mehr umstritten, auch wenn damals noch nicht das Leid der verstummten Opfer eine hörbare Stimme erhielt.

Warum aber blieb die Präsenz dieses justiziellen Großereignisses im öffentlichen Bewusstsein eher gering? Nürnberg war mehr als ein bloß völkerrechtswidriges "Ausnahmegericht für die Besiegten", wie renommierte deutsche Völkerrechtler damals schrieben. Es war, überblickt man die Zeit vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Eröffnung des ständigen Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag im März 2003 eine zukunftsweisende "Etappe in der Weltrechtsentwicklung" (Hans Mayer).

Nimmt man den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und die zwölf allein von den USA geführten Nachfolgeprozesse gegen Vertreter der Funktionseliten (Ärzte, Juristen, Militärs, Manager, Diplomaten) zusammen, dann wurde in Nürnberg das erste und einzige Mal der rassenpolitisch-militärisch-industrielle Gesamtkomplex der nationalsozialistischen Kriegs- und Gewaltverbrechen vor aller Augen und Ohren geführt.

Dass ihm eine für die politische Bewusstseinsbildung und Vergangenheitspolitik nachhaltige Wirkung versagt blieb, erklären im wesentlichen vier Gründe: Erstens der rasche Übergang zum Kalten Krieg. Kalter Krieg und Antikommunismus, Westintegration und Wiederbewaffnung ermöglichten der Bundesrepublik einen unerwarteten äußeren Identitätswandel: vom gefürchteten Kriegsgegner und verhassten Verbrecherstaat zum umworbenen Bündnispartner und unentbehrlichen Frontstaat.

Zweitens die Überlagerung unterschiedlicher Erfahrungen und Erinnerungsbilder. Infolge der Zerstörungen und des materiellen Elends, der eigenen Kriegstoten, der Kriegsniederlage, Gefangenschaft und der vielfach als ungerecht empfundenen Entnazifizierung sahen sich viele Deutsche, zumal die so genannten Schicksalsgruppen - Ausgebombte, Hinterbliebene, Heimatvertriebene, Flüchtlinge und Spätheimkehrer - selbst als Opfer.

Drittens der Verzicht auf eine Grundsatzdebatte über alternative vergangenheitspolitische Modelle. Für die Bundesrepublik hatte die soziale Integration einer großen Zahl moralisch und strafrechtlich kompromittierter Personen im Wiederaufbau des Rechtsstaates Priorität. Das kam in mehreren Amnestiegesetzen zum Ausdruck und in der Annahme einer Strafrechtskontinuität, die durch die Theorie der "gefesselten Justiz" ergänzt wurde. Demnach waren Mord und Totschlag auch im Dritten Reich strafbar, konnten allerdings wegen der von der politischen Führung angeordneten "Endlösung" nicht verfolgt werden. Die - gesellschaftlich allerdings risikoreichere - Alternative wäre gewesen, auf der Basis der von den Alliierten im Kontrollratsgesetz 10 übernommenen Strafgesetze des Londoner Statuts Sondergerichte für die weitere Aburteilung von NS-Tätern einzusetzen.

Viertens die tendenzielle Gleichsetzung von Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen, die bald dazu führte, dass letztere nicht mehr als strafrechtliche Vergehen wahrgenommen wurden. Als John McCloy Anfang der fünfziger Jahre die ersten als Kriegsverbrecher verurteilten Massenmörder unter dem Druck der Öffentlichkeit begnadigte, galten sie vielfach nur noch als "Kriegsverurteilte", manchem schon als "Opfer der alliierten Militärgerichte". In den siebziger Jahren hat Sebastian Haffner noch einmal daran erinnert, dass es ein "Fehler der Siegermächte" gewesen sei, Hitlers Massenmorde und die Kriegsverbrechen "in einen Topf" zu werfen. Es war die Zeit, als mehrere große Prozesse und die Namen deutscher Vernichtungslager die Öffentlichkeit erstmals seit Nürnberg wieder beschäftigten: Auschwitz, Treblinka . . .

Der Autor lehrt Politische Wissenschaft an der Universität Hamburg.

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