"Black Mirror - Bandersnatch" auf Netflix:Aus dieser Realität gibt es keinen Ausweg

Film still aus offiziellem Trailer "bandersnatch"

In "Black Mirror - Bandersnatch" nutzt ein Programmierer (Fionn Whithead) einen Roman für ein Videospiel.

(Foto: Netflix)

"Black Mirror - Bandersnatch" bietet interaktiv so viele Handlungswege, dass jeder Zuschauer einen anderen Film sieht.

Von Jürgen Schmieder

Ist dies nun das wahre Leben - oder doch nur Fantasie? Gefangen in einer Lawine, es gibt keine Ausflucht aus der Realität. Mach die Augen auf, schau hinauf zum Himmel und: erkenne.

Freddie Mercury hat diese Worte gesungen, und man muss in diesem dunklen Raum in der Firmenzentrale des Streamingportals Netflix im kalifornischen Los Gatos unweigerlich an den Beginn des Liedes "Bohemian Rhapsody" denken. Sie haben einem Tablet und Kopfhörer in die Hand gedrückt mit der Aufforderung, den Film Black Mirror: Bandersnatch zu, nun ja: was eigentlich: sehen? Erleben? Erschaffen?

Man hat ja schon mal davon geträumt, dass es so was irgendwann mal geben könnte, aber nun, da man erkennt, dass es so was gibt, kann man es kaum glauben.

Es wird heutzutage andauernd irgendwas angepriesen, das bahnbrechend sein soll, revolutionär, einzigartig, weshalb der einzig vernünftige Reflex auf solche Ankündigungen erst einmal nur routinierte Gelassenheit sein kann. Meistens ist es dann ja doch nicht so bahnbrechend wie versprochen. Es sind an diesem Tag noch ein paar andere Leute im Raum, allesamt geübt in routinierter Gelassenheit, doch die rennen nun verzückt hinaus oder verstört oder verärgert, und draußen, da wartet der Typ, der all das zu verantworten hat: der englische Humorist, Drehbuchautor und Produzent Charlie Brooker. Es gibt sehr coole Bilder von Brooker, 47, der als Cartoonist angefangen hat. Die Fotos zeigen einen Mann, dessen Augenbrauen sehr beeindruckende diabolische Krümmungen vollführen können. Aber heute macht Brooker weniger einen coolen als einen nervösen Eindruck. Die Frage, die ihm offenbar im Nacken sitzt, lautet schlicht, wie wohl die Zuschauer auf das ambitionierte Projekt reagieren werden.

Charlie Brooker hat sich die Anthologie-Serie Black Mirror ausgedacht, die zunächst auf dem britischen Channel 4 zu sehen gewesen ist und seit der dritten Staffel weltweit bei Netflix läuft. Anthologie steht für Serien, in denen jede Folge von anderen Personen und anderen Geschichten erzählt, die nichts miteinander zu tun haben, außer dass sie einem Thema zugeordnet werden können. Brookers Serie spielt in einer Welt, die alles andere als harmonisch und positiv zu beurteilen ist. In dieser Dystopie sind die einzelnen Folgen lediglich über verdeckte Hinweise miteinander verknüpft. Und sie vermischen gegenwärtige Realität mit futuristischen Szenarien.

Der Zuschauer fragt sich ständig: Könnte es so etwas geben? Und was, wenn es das längst gibt?

Der Zuschauer wird durch diese aufgeladene Mischung so verunsichert, dass er sich stets fragt: Könnte es so was wirklich geben? Was, wenn es das längst gibt? Wenn wir überwacht werden wie in der Folge "Arkangel"? Wenn sich Roboter gegen Menschen auflehnen wie in "Metalhead"? Wenn ein Komiker das höchste politische Amt eines Landes anstrebt wie in "The Waldo Moment"? Zu Beginn der Serie vor sieben Jahren fragte Brooker: "Wenn Technologie eine Droge ist, und genauso fühlt es sich doch an: Was sind die Nebenwirkungen?"

Nun also hat Brooker die Folge "Bandersnatch" vorgelegt, die Netflix als bahnbrechend, revolutionär und einzigartig anpreist und um die es bis zum weltweiten Start an diesem Freitag geheimniskrämert. Das Streamingportal ist nicht mehr allein, überall entsteht Konkurrenz: andere Portale, traditionelle TV-Sender, Silicon-Valley-Unternehmen und Start-Ups. Netflix muss mehr denn je einzigartige Produkte liefern, um Abonnenten zu behalten und neue zu gewinnen. Es preist deshalb bisweilen sogar völlig hanebüchene Stoffe an, bei denen der Zuschauer fragt: Was haben Drehbuchautor und Regisseur eigentlich genommen?

Die Frage nach der halluzinatorischen Dimension stellt sich, allerdings im positiven Sinne, auch bei Booker, dessen Gehirn ein Labyrinth der Imaginationskraft zu sein scheint, in das er die Zuschauer mit jeder Black-Mirror-Folge einlädt. Er hat, und das ist immens wichtig, die vernünftige Co-Showrunnerin Annabel Jones bei sich, die beiden sind ein bisschen wie John Lennon und Paul McCartney, und mit Bandersnatch liefern sie in Zusammenarbeit mit Regisseur David Slade (Hannibal, Breaking Bad) etwas wirklich Neues für das Geschichtenerzählen ab. So etwas wie das, was "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" für die Musikindustrie gewesen ist.

Es geht um einen jungen Programmierer im Jahr 1984, der ein revolutionäres Computerspiel erschaffen möchte, basierend auf einem Buch. Es wäre völliger Quatsch, nun auch nur ein Wort mehr zur Handlung zu verraten, und das nicht etwa, weil Spoilern blöd ist. Sondern darum, weil jeder Zuschauer eine andere Geschichte, ja, was eigentlich: sieht? Erlebt? Erschafft? Er trifft immer wieder Entscheidungen für den Protagonisten, auf der Konsole per Kontroller, beim Smart-TV mittels Fernbedienung und beim iPad oder Smartphone auf dem Display - gleich nach Beginn und dann im Schnitt alle 90 Sekunden. Immer heißt es an Gabelungen auf A oder B zu tippen und damit den einen oder anderen Handlungsstrang zu wählen, die alle zu verschiedenen Enden der Geschichte führen.

Es ist eine Hommage ans interaktive Geschichtenerzählen, an legendäre Computerspiele wie "Zork" oder die Buchserie "Choose Your Own Adventure", und immer wieder stellt sich beim Betrachten die Frage: Ist dies nun das wahre Leben - oder doch nur Fantasie? Es gibt keine Ausflucht aus dieser Realität.

Interaktive Storys gibt es seit mehr als 50 Jahren, die Idee ist wahrlich nicht neu - zumal bei Netflix bereits die interaktiven Kinderfilme Minecraft: Story Mode und Puss in Boots zu sehen sind. Die Handlungsstränge dieser Geschichten und Spiele lassen sich jeweils auf einem Blatt Papier wie ein Baum mit ein paar Ästen und Zweigen aufzeichnen. Wenn man das ein paarmal gemacht hat, dann kennt man bei interaktiven Büchern, Filmen und Spielen all diese Äste und Zweige.

Bandersnatch ist kein Handlungsbaum mit Ästen und Zweigen, es ist eine Art LSD-Labyrinth mit insgesamt knapp fünf Stunden Filmmaterial, aus dem der Zuschauer verzückt, verstört oder verärgert herausfindet - und sofort wieder hineinläuft, weil er gehört hat, dass auch die Varianten "verzaubert", "verwirrt" oder "verlassen" möglich sind. Es werden Meta-Ebenen und Meta-Meta-Ebenen eingeführt, Hinweise auf Bücher, Serien, Netflix, und wer einen der Lieblingsstränge von Brooker sieht (oder erlebt oder erschafft), der bemerkt, wie Brooker sich selbst auf den Arm nimmt für den Wahnsinn, den er da erschaffen hat.

"Es geht ja nicht linear voran, also verirrt sich auch der Autor immer wieder in diesem Labyrinth."

"Mein Kopf hat beim Schreiben immer wieder zu rauchen begonnen", erzählt Brooker jetzt, "es geht ja nicht linear voran, also verirrt sich auch der Autor immer wieder in diesem Labyrinth, das er selbst erschaffen hat und in dem er sich eigentlich auskennen sollte." Netflix habe während der Produktion die technischen Möglichkeiten verbessert, sodass immer neue Handlungen oder kürzere Abstände zwischen Entscheidungen möglich gewesen seien: "Es war völlig verrückt, aber ich hoffe, dass es sich gelohnt hat."

Wie gesagt, Brooker wirkt angespannt, weil so was hat es ja in dieser Verschlungenheit, mit derart mannigfaltigen Varianten und derart komplexen Hinweisen noch nicht gegeben. "Ich würde nicht von einer Evolution sprechen oder gar fordern, dass viele Geschichten von nun an so erzählt werden können. Es muss vieles passen, damit es funktioniert", sagt er.

So ein Experiment kann scheitern, und zwar gewaltig. Und seien wir ehrlich: Es scheitert im Grunde sehr viel häufiger, als dass es gelingt. Black Mirror: Bandersnatch aber funktioniert für den Zuschauer, der sich darauf einlässt und es funktionieren lässt - alle anderen dürfen es für den größten Mist halten, den sie jemals gesehen haben. Dem während der Vorführung etwas nervösen Charlie Brooker aber kann das wirklich völlig egal sein. Zum einen: Es dürfte für die meisten Zuschauer tatsächlich funktionieren. Zum anderen: Er hat die Grenzen des Geschichtenerzählens verschoben. Er hat ein neues Genre erschaffen.

Black Mirror - "Bandersnatch", bei Netflix.

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