Popkolumne:Spätwerkgesäusel

Die wichtigsten Popereignisse der Woche. Diesmal mit neuer Musik von Bad Bunny, Paul McCartney und Noname - und der Antwort auf die Frage, was gleichzeitig völlig gaga klingt und so, als habe die Zukunft schon begonnen, angenehm vor sich hin zu vibrieren.

Von Annett Scheffel

Üblicherweise sind die ersten Tage und Wochen eines neuen Popjahres immer die Zeit, in der es sich am besten über die Zukunft nachdenken lässt. Verrückterweise lohnt es sich dafür noch ein letztes Mal ins alte Jahr zurückzublicken: Dort ist einen Tag vor Weihnachten nämlich noch überraschend ein Album erschienen, das der vorläufige Höhepunkt eines Wandels in der Popmusik ist: "X100PRE" (Rimas Entertainment) ist das Debüt des puerto-ricanischen Rappers Bad Bunny. Zusammen mit anderen lateinamerikanischen Künstlern wie J. Balvin ist Benito Antonio Martínez Ocasio eine der prominentesten Figuren, die aus nicht-angloamerikanischen Subgenres kommend gerade die Maßstäbe des Mainstream-Pop verändern. Eigentlich ist ein Album dabei allerdings das letzte, was man dabei erwartet: Bekannt geworden ist der 24-Jährige nämlich als Fließbandarbeiter fürs Streaming-Zeitalter (27 Singles in den vergangenen zwei Jahren plus 37 als Gast). Die große Kunst an "X100PRE" ist es deshalb, dass die Tracks immer noch glühen vor lauter irrer, kunstwütiger Schaffenskraft und trotzdem als geschlossenes Werk funktionieren. Ein abenteuerlicher, origineller Trip durch allerhand Stile wie Trap, R'n'B, Reggaeton, House, Cumbia oder Pop-Punk, zu dem Bad Bunny auf Spanisch (oder Spenglisch), in exzentrisch nasalen Ton und unter Zuhilfenahme von viel Auto-Tune rappt. Irgendwie ist das gleichzeitig sehr gaga und so, als hätte die Zukunft schon begonnen vor sich hin zu vibrieren.

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(Foto: PR)

Apropos Auto-Tune. Paul McCartney hat seine erste Single mit Auto-Tune-Gesang veröffentlicht: Eigentlich hätte "Get Enough" (Capitol) bereits auf dem Album "Egypt Station" erscheinen sollen. So jeden falls hatte er das dem Magazin GQ erzählt - zusammen mit der für so manchen Beatles-Klassizisten schockierenden Aussage, er und John Lennon hätten die Software zur Tonhöhenkorrektur in so einigen Songs benutzt, hätte es sie damals schon gegeben. "Get Enough" beginnt nun als klassische Pianoballade - eher so die Art Spätwerkgesäusel, die man von einer 76-jährigen Songwriter-Legende erwartet: schön und solide, mehr aber auch nicht - bis sich seine Altherren-Stimme ausgerechnet bei der Zeile "Do you remember?" unvermittelt in Höhen empor schwingt und in einen kleinen, schrillen Ton überschlägt. Ein wenig klingt das so, als versuche Bon Iver in einem alten englischen Landhaus unter den skeptischen Blicken von Elvis Costello eine Softrock-Ballade zu einem digitalen Melodrama aufzumotzen. Kurzum: Ääähm, ja.

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(Foto: PR)

Ähnlich unentschieden zwischen Vergangenheit und Gegenwart scheinen die Veranstalter des Woodstock-Festivals zu sein. Das soll zum 50. Jahrestag im August noch einmal am Originalschauplatz in Bethel Woods, New York stattfinden. Bevor auch nur ein einziger Auftritt bestätigt ist, wurde aber schon angekündigt, dass es "TED-artige Talks von führenden Futuristen und Retro-Tech-Experten" und "Entertainment-Dörfer" geben wird. Das sind also die Hippies von heute: technikbegeisterte Nerds? Oder reist am Ende doch nur das Coachella-Publikum an die Ostküste?

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(Foto: PR)

Sehr empfohlen sei dagegen unbedingt die neue Single der amerikanischen Rapperin Noname. Musikalisch ist "Song 31" (Noname) eine lässige, freischwebende Rap-Nummer mit Jazzinstrumentarium. Wie schon auf dem sehr guten Album "Room 25" aus dem September steckt auch hier die ganze Superpower von Nonames Musik in der Sprache, in Sprachfluss und Haltung: Ihre Verse sind ein kluger, poetischer und thematisch hochbeweglicher Bewusstseinsstrom. Noname selbst zeigt als Gedankenverknüpfungsmaschine, wie alles zusammenhängt: Profit und Schmerz und Weihnachten und Krebs und Binge-Watching und das amerikanische Strafvollzugssystem - und zwar in einem einzigen Song!

Ziemlich interessant könnte es im Februar beim diesjährigen Super Bowl werden: Für die Halbzeitshow des NFL-Finales - mit seinen 100 Millionen Zuschauern traditionell einer der begehrtesten Gigs des Jahres - bahnt sich ein Scoop an: Wie es scheint, findet sich keine hochkarätige Besetzung. Abgesagt haben schon Rihanna und Cardi B und rufen nun mit Unterstützung von Jay-Z zum Boykott auf. Hintergrund ist der Umgang der Football-Liga mit Colin Kaepernick. Wir erinnern uns: NFL-Quarterback, sein Protest gegen Polizeigewalt, er kniete bei der Nationalhymne, Trumps Wut-Tweets gegen ihn. Was wäre das für eine große, gemeine Freude zu sehen, wie die Super-Bowl-Show zu dem würde, was die NFL mit repressiven Mitteln und sehr, sehr viel Geld stets zu verhindern versucht: politisch und zweitklassig besetzt.

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