Ferrari:Es übernimmt Harry Potter

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Nach dem Abschied von Maurizio Arrivabene verliert die Formel 1 eine ihrer schillerndsten Figuren. Mit Mattia Binotto geht Sebastian Vettel einen strukturierteren Anlauf auf den Titel an.

Von Philipp Schneider, Maranello/München

Es ist nicht nur ein Teamchef, der nun geht. Fort von Ferrari, raus aus der Formel 1. Es geht ein spezieller Typ, der nächste aus dem Raritätenkabinett, der so nicht zu ersetzen sein wird. Fernando Alonso ist weg. Felipe Massa auch. Kimi Räikkönen ist so gut wie weg, er darf ja nur noch in einem Sauber fahren. Wer den Verlust unvergleichlicher Charaktere in der Formel 1 beklagt, der darf jetzt wahrlich und guten Gewissens auch den Abschied von Maurizio Arrivabene beweinen.

Die Formel 1 ist eine große Bühne, mehr als alles andere. Im Fahrerlager trifft einer Stereotypen, Klischees, erwartbare Dinge und Personen. In dieser Scheinwelt zwischen Autogaragen, Motorhomes und wahrlich üppigen Buffets sehen die Menschen meist so aus, wie sie auszusehen haben. Die Boxencrews in ihren Overalls. Die Rennfahrer mit ihrem Posterboy-Lachen (mit Ausnahme von Räikkönen). Die im Halbkreis um einen Rennfahrer stehenden Journalisten mit den gestreckten Armen und Aufnahmegeräten in den Händen. Die Hostessen in ihren Blüschen. Alles erwartbar. Arrivabene war die Ausnahme.

Maurizio Arrivabene sah nicht so aus, wie ein Teamchef in einer hochmodernen Unterhaltungsveranstaltung wie der Formel 1 auszusehen hat. Arrivabene sah so aus und trat so auf wie einer, der gerade der Kinoleinwand entstiegen war. Einem dieser Wild-West-Gemälde von Sergio Leone, in denen die Kamera ganz nah ran fährt, um die Gesichtsfalten der Revolvermänner vor dem Showdown zu filmen wie eine Helikopterkamera den Grand Canyon. Und wenn Maurizio Arrivabene sprach, dann krächzte seine Stimme so schräg, dass man ihm ein Glas Wasser reichen wollte, damit er die Ablagerungen auf seinen Stimmbändern fortspülen möge.

Mattia Binotto, Arrivabenes Nachfolger als Teamchef bei Ferrari, hat kein Gesichtsgebirge. Er krächzt auch nicht. Binotto trägt eine fein umrandete Brille, er hat weiche Haut, lockiges Haar. Manche sagen, er erinnere an Harry Potter, den übertrieben lieben Zauberer. Ein bisschen sieht er aber auch aus wie Dr. Strangelove, Stanley Kubricks verrückter Wissenschaftler, und die Wahrheit wird wie immer irgendwo dazwischen liegen. Manchmal verrät das Äußere eine Menge über einen Menschen, im Falle der langjährigen Ferrari-Mitarbeiter Arrivabene und Binotto ist es exakt so.

Arrivabene, vor vier Jahren zum Teamchef von Ferrari und Nachfolger von Marco Mattiacci ernannt, war zuvor 17 Jahre lang als Manager für den die Scuderia finanzierenden Zigarettenhersteller tätig. Binotto, ein Ingenieur aus der Schweiz, hatte mit Sponsoren und Gerede wenig zu tun. Er war Technikchef bei der Scuderia und vor allem dafür verantwortlich, dass der Ferrari-Motor nach seinem grauenvollen Start in die Hybrid-Ära den Anschluss finden konnte an den Antrieb von Mercedes.

Arrivabene, Mann des Worts, und Binotto, Mann der Garage, hatten sich in den vergangenen Monaten einen Machtkampf geliefert, der sich nur zutragen kann in Firmen, in denen es nicht läuft. Und bei Ferrari war seit dem Rennen in Monza gar nichts mehr rund gelaufen. Die Scuderia hat allerdings lange Zeit dafür gebraucht, sich zu entscheiden, in welchem Zuständigkeitsbereich es noch schlechter lief: dem von Arrivabene? Oder dem von Binotto?

Der im vergangenen Juli verstorbene Fiat-Chef Sergio Marchionne galt lange Zeit als Fürsprecher für Arrivabene. Er hielt auch noch zu ihm, als vermeidbare und in letzter Instanz vom Teamchef zu verantwortende Patzer wie der Zündkerzen-Defekt von Suzuka Sebastian Vettel schon 2017 um den Titel gebracht hatten. Erst John Elkann, Erbe des mächtigen italienischen Agnelli-Clans, Präsident von Fiat und Ferrari, ließ Arrivabene fallen. Und das offenkundig trotz dessen Freundschaft mit Louis Camilleri, dem neuen Geschäftsführer von Ferrari, dem Arrivabene schon bei Philip Morris zu dessen Zufriedenheit zugearbeitet hatte.

Es gibt eine einfache und eine komplizierte Antwort auf die Frage, weswegen die Scuderia mitten in der entscheidenden Entwicklungsphase des neuen Autos die Hierarchie durcheinanderwirbelt. Die simple Deutung kommt mit der Beobachtung aus, dass Ferrari in der anstehenden Saison generell neue Wege geht, um die bewährten und nicht zur Weltmeisterschaft führenden Strukturen zu durchbrechen. So wurde der ewige Kimi Räikkönen, 39, trotz seiner auch 2018 mal wieder tadellosen Darbietung als Vettels Helfer zu Sauber abgeschoben, wo er nun seine letzten Runde vor der Rennfahrer-Rente drehen darf. Ersetzt wird er durch Charles Leclerc, 21, Vettels neuen Garagennachbarn, dem die Zukunft bei Ferrari gehören dürfte. Die Frage ist allein: Wann? In dieses personaltechnisch betrachtet knallharte Entscheidungsmuster passt die Trennung von Arrivabene. Eines Teamchefs, der ja in den vergangenen vier Jahren durchaus die Chance hatte, die erste Weltmeisterschaft eines Ferrari-Piloten seit 2007 zu ermöglichen. Vettel ist aus Sicht von Elkann und Camilleri (noch) nicht zu ersetzen. Aber Arrivabene? Über den Kritiker unkten, er sei lediglich eine dem Machterhalt von Marchionne dienende Marionette?

Die kompliziertere Deutung geht von einer Gegenüberstellung der Fehler von Arrivabene und Binotto aus. Es gibt sicher Unternehmen, in denen wären beide rausgeflogen. Arrivabene, verantwortlich für das Team, die Innen- und die Außenpolitik der Scuderia, hat die Strategiefehler und schlechten Boxenstopps zu verantworten. Binotto kann sich zugutehalten, den Motor auch in diesem Jahr verbessert zu haben. Er dürfte sich allerdings fragen, warum der Motor auf kuriose Weise im letzten Saisondrittel wieder zurückentwickelt wurde.

Nachfolger: Mattia Binotto, 49. (Foto: imago)

Arrivabene muss rückblickend vor allem die Geschehnisse in Monza verantworten. In jenem Rennen, zu dem Vettel nach seinem völlig überlegenen Sieg in Spa als Favorit anreiste, um dort mitzuerleben, dass in der Qualifikation nicht ihm, sondern seinem Teamkollegen Räikkönen der auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke entscheidende Windschatten gegönnt wurde. In Japan gab es den nächsten Fehler, als Ferrari im Qualifying die falschen Reifen aufzog. Arrivabene suchte in Suzuka die Schuld bei seinem Team, wirkte aber längst wie ein Kapitän, der die Kontrolle über sein Schiff verloren hat und sich nur noch mit Gebrüll einer drohenden Meuterei entgegenstemmt.

Bei Arrivabenes teils bemerkenswerten öffentlichen Auftritten konnten Beobachter der Illusion erliegen, sie seien in eine dieser Fernsehshows geraten, in denen im Publikum Schilder in die Luft gehalten werden, auf denen möglichst seltsame Begriffe zu lesen sind. Und bei denen vorne auf der Bühne ein Redner steht, der versuchen muss, die vielen seltsamen Worte möglichst unauffällig in einen Vortrag einzuflechten, der noch halbwegs Sinn ergibt. Bei Arrivabene stand zwar nie "Orang-Utan-Klaus" oder "Quastenflosser" auf den Schildern. Aber beim Rennen in Austin im Oktober wurde er mal gefragt, was er vom geplanten Kostendeckel für die Teams halten würde. Und er holte weit aus. Sehr weit. Arrivabene holte unfasslich weit aus, packte Worte wie "Playstation", "Real Madrid" und "Trient" in seine Rede, er sprach auch über das Wetter, und am Ende seines minutenlangen Vortrags wusste man noch nicht mit Gewissheit, was er eigentlich sagen wollte. Binotto wirkt da strukturierter, präziser. Mal sehen, ob er Vettel zur ersehnten fünften Weltmeisterschaft, der ersten im Ferrari, führen kann.

Arrivabene wird nun übrigens mal wieder mit Juventus Turin in Verbindung gebracht. Er solle, das berichtet der Corriere dello Sport, zum Geschäftsführer des Fußballklubs aufrücken. Die Geschichte ist nicht neu. Auch in Austin wurde er angesprochen auf Juventus; und Arrivabene antwortete: "Ich habe gesagt: Meine Zukunft liegt bei Ferrari. Aber das muss das Top-Management noch absegnen." Hat es nun nicht. Mag aber sein, dass der unvergleichliche Maurizio Arrivabene seine Zukunft klar vor Augen hat.

© SZ vom 09.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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