Großbritannien:Eine Insel in Angst

Brexit

Am 29. März soll Großbritannien aus der EU austreten - mit oder ohne Vertrag.

(Foto: picture alliance/dpa)
  • Vielen Unternehmen in Großbritannien bereiten sich auf einen Chaos-Brexit vor: Sie horten Teile, verschieben Investitionen und verlagern Jobs.
  • Denn die Chancen stehen schlecht, dass das britische Parlament am Dienstag dem ausgehandelten Austrittsvertrag zustimmt.
  • Wenn das britische Parlament gegen einen Austrittsvertrag stimmt, wird es keine Übergangsphase geben - was für die Unternehmen fatal wäre.

Von Björn Finke

Es klappert und zischt und brummt, es wird gelötet, in der Luft hängt der Geruch von Metall. In dieser Fabrikhalle im Westen Londons montieren Arbeiter Fahrräder. Aber keine gewöhnlichen, sondern teure Klappräder. Die lässt der britische Hersteller Brompton hier fertigen. Das Unternehmen verkauft den Großteil ins Ausland und bezieht von dort wiederum viele Zulieferteile. Firmenchef Will Butler-Adams hat nun mehr Lagerplatz angemietet und den Vorrat an Teilen aufgestockt, etwa von Zahnkränzen und Radnaben. Das kostet Zehntausende Pfund, doch der 44-Jährige fürchtet die Folgen eines ungeregelten Brexit.

In dem Fall könnten die Häfen verstopft sein, der stete Nachschub aus dem Ausland wäre blockiert, sagt der Manager. Auch viele andere Unternehmer bereiten sich schon auf einen Chaos-Brexit vor: Sie horten Teile, verschieben Investitionen, verlagern Jobs. Und die Gefahr eines solch desaströsen Austritts steigt. Am Dienstag soll das britische Parlament über den Brexit-Vertrag abstimmen, auf den sich London und Brüssel geeinigt haben. Aber sehr wahrscheinlich wird Premierministerin Theresa May keine Mehrheit finden. Zahlreiche Brexit-begeisterte Rebellen in ihrer konservativen Fraktion lehnen den Vertrag ab, weil ihrer Meinung nach May der EU zu sehr entgegengekommen ist.

Ohne Vertrag fiele allerdings die vereinbarte Übergangsphase weg, in der sich bis mindestens Ende 2020 nicht viel ändern soll. Stattdessen würden nach dem Austritt am 29. März Zölle und Zollkontrollen eingeführt. Das würde britische Geschäfte mit den übrigen EU-Staaten, dem wichtigsten Handelspartner , teurer und komplizierter machen. Die Häfen im Königreich und auf dem Festland sind zudem nicht darauf vorbereitet, als Zollgrenze zwischen der EU und der fünftgrößten Volkswirtschaft der Welt zu dienen.

Allein Europas belebtester Fährhafen Dover fertigt an Spitzentagen 10 000 Laster von Schiffen von und nach Calais und Dünkirchen ab. Würden Zollformalitäten die Abfertigung jedes Lastwagens nur um zwei Minuten verzögern, wäre das Ergebnis ein 27 Kilometer langer Dauerstau auf den Straßen vor dem Port of Dover, rechnet das Hafenmanagement vor.

Carolyn Fairbairn, Chefin des größten britischen Wirtschaftsverbands CBI, warnte deswegen am Freitag davor, den Brexit-Vertrag im Parlament durchfallen zu lassen. Bei einem Austritt ohne Abkommen "kämen auf Firmen neue Kosten und Zölle zu, der Betrieb unserer Häfen würde gestört". Der Schaden für die Wirtschaft wäre "schwerwiegend, umfassend und dauerhaft". Lange vermieden die Lobbyisten offene Kritik an dem lähmenden Zwist zwischen May und den Brexit-Fans in ihrer Fraktion. Doch inzwischen haben sie alle Zurückhaltung aufgegeben. Die fünf wichtigsten Verbände klagten in einem Brief, Manager sähen "mit Entsetzen", wie Abgeordnete parteiinterne Streitigkeiten vor das Wohl des Landes stellten.

Mit am stärksten würde die Autoindustrie leiden. Vier von fünf Fahrzeugen werden ins Ausland geliefert. In Deutschland ist das beliebteste Modell aus britischer Fertigung der Opel Astra. Bei einem Brexit ohne Vertrag würden hier Zölle von zehn Prozent fällig: Preise würden steigen, Werke an Wettbewerbsfähigkeit verlieren. Tausende Jobs wären bedroht. Zudem bringen jeden Tag mehr als 1100 Lastwagen Zulieferteile aus EU-Staaten in die Fabriken. Diese halten nur Teile für wenige Produktionsstunden vorrätig und sind auf steten Nachschub angewiesen.

Die Kühlhäuser sind voll

Der englische Sportwagen-Hersteller Aston Martin plant, Teile einzufliegen, wenn in Dover Chaos herrscht. Und BMW zieht im Werk der Tochtermarke Mini in Oxford die Sommerpause auf den Brexit-Termin Ende März vor. Die Investitionen in der wichtigen Branche haben sich im ersten Halbjahr 2018 halbiert: Viele Chefs warten ab, bis Klarheit herrscht.

Das Königreich führt außerdem fast ein Drittel seiner Lebensmittel vom Festland ein. Die Supermarktkette Tesco und der Kaufhauskonzern Marks & Spencer kündigten in dieser Woche an, ihre Konservenvorräte aufzustocken. Auch Verderbliches wird gehortet: Der Verband der Lebensmittelindustrie warnt, dass Platz in Kühlhäusern komplett ausgebucht sei.

Vergleichsweise gut ist die Finanzbranche gerüstet. Banken und Versicherer an Europas größtem Finanzplatz London eröffneten Büros auf dem Festland und beantragten dort Lizenzen, um selbst nach einem ungeregelten Brexit weiter Kunden in der EU bedienen zu dürfen. Die Beratungsfirma EY schätzt, dass deswegen bis zu 7000 Jobs aus London abwandern werden. Das ist nicht viel: Insgesamt beschäftigen die Geldbranche und von ihr abhängige Dienstleister, etwa Wirtschaftsprüfer, 751 000 Angestellte in der Stadt.

Ein Chaos-Brexit mit Zöllen und Dauerstaus würde also vor allem die Industrie treffen - und damit die ohnehin armen Industrieregionen des Landes.

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