Brexit:Ein Land in Hysterie

A pro-Brexit protester speaks to a taxi driver outside the Houses of Parliament in London

Eine Brexit-Befürworterin diskutiert am Montag vor dem Parlament in London mit einem Taxifahrer.

(Foto: REUTERS)

Was Großbritannien wirklich hilft, scheint vor dem Showdown im Parlament niemanden mehr zu interessieren. Europa sitzt in der ersten Reihe und schaut zu, wie sich das Land selbst zerlegt.

Kommentar von Cathrin Kahlweit, London

Selten hat wohl in Europa eine Parlamentsabstimmung so viel Aufmerksamkeit bekommen wie das Votum des britischen Unterhauses über das Austrittsabkommen mit der EU. Dabei ist das Drama an diesem Dienstag weder der Anfang noch das Ende eines hochkomplexen Prozesses, sondern nur eine Etappe im epischen Brexit-Streit. Denn die künftigen Beziehungen zur EU sind weiter ungeklärt.

Allerdings kann die Abstimmung über das Schicksal der Premierministerin entscheiden, vor allem aber den Fortgang der Brexit-Verhandlungen maßgeblich beeinflussen. Und so wird jede Volte diskutiert, jedes Rededuell im Parlament, jeder Auftritt des teils ja wirklich sonderbaren politischen Personals in London mit Spott oder aber Entsetzen kommentiert. Europa sitzt in der ersten Reihe und schaut zu, wie sich Großbritannien selbst zerlegt - kein Hollywood-Blockbuster könnte spannender sein. Aber letztlich ist dieser Showdown das Ergebnis eines politischen Versagens.

In Parlament und Regierung steht kein Stein mehr auf dem anderen

Was Großbritannien selbst angeht, wäre wohl "Hysterie" der treffende Ausdruck für den Zustand der Politik. Die Mehrheit der Bürger würde mittlerweile im Zweifel in einer neuen Abstimmung schon deshalb gegen den Austritt stimmen, um das Chaos zu beenden. Derweil steht in Parlament und Regierung kein Stein mehr auf dem anderen. Kabinettsmitglieder untergraben täglich mit neuen Vorschlägen den Kurs von Theresa May. Ex-Minister geben im Dutzend ungebetene Ratschläge. Parlamentarier, die kurz vor dem Votum in den Adelsstand erhoben und per Federstrich von Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung freigesprochen werden, verkünden, dass sie überraschend für die Regierung stimmen werden - oder aus moralischer Größe trotzdem gegen sie.

Die einen wetten auf den Kurs des Pfunds und bringen ihr Vermögen außer Landes, die anderen planen den Sturz der Regierung ungeachtet der Frage, ob damit dem Land geholfen wäre. Die eigentliche Frage aber, ob der Vertrag, den May mit Brüssel ausgehandelt hat, brauchbar oder zumindest erträglich ist, hat jede Bedeutung verloren. Zu festgefahren sind die Positionen, zu eitel die Beteiligten, zu konträr die Interessen, mit denen die Parteien auf das Papier schauen.

Die einen wollen die Auffanglösung für Nordirland stoppen, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, dass diese im Interesse Nordirlands ist. Andere, und das sind vor allem Abkömmlinge der Bildungs- oder Geldelite, plädieren aus ideologischen Gründen für einen "No Deal", ohne einzukalkulieren, dass eine solche Nicht-Lösung auf Kosten der Armen, der Arbeitssuchenden, der Arbeiter, der Angestellten ginge.

Die Befürworter eines zweiten Referendums geben vor, das Volk müsse sich konkret mit dem Ergebnis der Verhandlungen von May befassen dürfen. Und man werde es respektieren, wenn das Ergebnis erneut ein Ja zum Brexit wäre. Dabei hat wohl nicht einmal jeder Abgeordnete das Vertragswerk gelesen und verstanden. Und die meisten Fans des zweiten Referendums wollen damit den Brexit stoppen. Das müssten sie aber ehrlich sagen.

In dieser aufgeheizten Stimmung gilt: Man muss den vorliegenden Deal nicht mögen. Aber er wäre ein Anfang. Ein Kompromiss. Er würde einen Weg aufzeigen. Das gemeinsame Ziel könnte dann in den Verhandlungen nach dem EU-Austritt der Briten am 29. März definiert werden.

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