Hartz-IV-Sanktionen:"So eine Sanktion ist ein Einschnitt in die Vertrauensbasis"

Jobcenter München âÄ" Mühldorfstraße 1, hinterm Ostbahnhof

Der Eingang zum Jobcenter München, wo auch Patrick Werner und sein Projektteam arbeiten.

(Foto: Florian Peljak)

Arbeitsvermittler Patrick Werner erklärt, wann Hartz-IV-Sanktionen verhängt werden, was sie bewirken - und warum er sie für notwendig hält.

Interview von Henrike Roßbach, Berlin

SZ: Herr Werner, warum finden viele Menschen keine Stelle - obwohl der Arbeitsmarkt seit neun Jahren boomt?

Patrick Werner: Bei den Menschen, die in unserer Betreuung bleiben, liegen viele Probleme vor. Bei Alleinerziehenden ist es oft die Kinderbetreuung, andere pflegen Angehörige, manche haben Schulden, viele haben gesundheitliche Probleme. Oft ist auch die psychische Beeinträchtigung gravierend. Da ist an den Arbeitsmarkt oft erst mal nicht zu denken, diese Menschen brauchen eine ganzheitliche Beratung.

Sie organisieren dann Termine bei Beratungsstellen?

Natürlich steht als Hauptziel die Integration in den Arbeitsmarkt und ins soziale Leben. Aber der Kunde muss da abgeholt werden, wo er steht. Man muss erst mal eine Vertrauensbasis schaffen. Es geht nicht, dass man gleich beim ersten Besuch fragt: Haben Sie Schulden? Haben Sie eine Sucht? Ich stelle oft als Erstes die Frage: Was haben Sie für Wünsche? Wo sehen Sie sich in sieben Jahren? Dann schreibe ich das Hauptziel auf ein Blatt Papier, und wir vereinbaren Zwischenziele. Und bei jedem persönlichen Gespräch hole ich dieses Blatt wieder raus und wir überlegen, ob wir an den Zielen etwas ändern müssen. Es ist wichtig für die Vertrauensbasis und die Wertschätzung dem Kunden gegenüber, dass ich frage: Wie fühlen Sie sich damit? Die Kümmerer-Rolle ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit.

Vertrauen und Wertschätzung sind gute Stichpunkte. Hartz-IV-Kritiker sprechen dem System genau das ab, unter anderem wegen der Sanktionen, die etwa bei verpassten Terminen verhängt werden.

Kein Arbeitsvermittler ist scharf darauf, eine Sanktion zu verhängen. In der Zeit, die ich dafür brauche, habe ich teilweise zwei Leute in den Arbeitsmarkt integriert. Es ist aber gesetzlich vorgegeben, wann Sanktionen verhängt werden müssen. Wenn wir uns die Zahlen angucken: Drei Prozent der Kunden sind monatlich betroffen, bei uns in München 2,2 Prozent, und davon sind der Großteil unentschuldigte Meldeversäumnisse, bei denen die Leistungen um zehn Prozent gekürzt werden. Es geht also meist nicht um große Sanktionen von 30 Prozent.

Wie funktioniert das in der Praxis?

Der Kunde erscheint nicht zum Termin, dann bekommt er eine Anhörung und kann Stellung nehmen, ob es einen triftigen Grund gab. Wenn dann nichts passiert, müssen wir die Sanktionen umsetzen. Wenn der Kunde aber zu mir kommt, suchen wir nach einem Weg, die Sanktion doch noch abzuwenden. Wenn mir jemand glaubhaft darlegt, dass er zu krank war, um für ein Attest zum Arzt zu gehen, muss ich nicht auf einer Sanktion beharren.

Welche Wirkung haben Sanktionen?

Viele Kunden haben eine große Abwehrhaltung gegenüber den Jobcentern. Natürlich ist so eine Sanktion auch ein Einschnitt in die Vertrauensbasis. Das Problem ist, den Betroffenen wieder an meinen Tisch zu kriegen. Wenn ich das geschafft habe, versuche ich ihm das Gefühl zu geben: Wir können zusammen was erreichen, und wir arbeiten mit dir - nicht gegen dich. Meistens musste ich dann nie wieder über Sanktionen sprechen. Die Kunden wollen, dass ihnen geholfen wird. Niemand fühlt sich pudelwohl in Hartz IV.

Sind Sanktionen überhaupt notwendig?

Generell halte ich sie für notwendig, denn wir haben es auch mit Verweigerern zu tun. Es gibt Einzelfälle, wo eine Schwarzarbeit nebenher läuft. Die haben natürlich kein Interesse daran mitzuarbeiten. Und dann komme ich nicht weiter, dann wären mir ohne Sanktionen die Hände gebunden. Ich sehe aber Optimierungsbedarf.

Welchen?

Bei den unter 25-Jährigen zum Beispiel. Wenn die einmal eine Stelle nicht annehmen, kriegen sie direkt eine 100-Prozent-Sanktionierung. Nur die Miete bleibt. Die haben aber Kosten, einen Handyvertrag, Kleidung, die sie kaufen müssen. Für Lebensmittel kriegen sie zwar Gutscheine, aber wir erwirken eine größere Abwehrhaltung bei den Jugendlichen. Ich würde es so anpassen, dass auch sie erst mal nur eine 30-Prozent-Sanktion bekommen. Und generell finde ich, wenn jemand schon mit 30 Prozent sanktioniert ist, sollte keine noch höhere Sanktion verhängt werden. Das ist aufwendig, und wir nehmen den Leuten so viel Geld weg, dass neue Probleme entstehen, Schulden etwa. Auch das Verlängern von Sanktionen müsste nicht sein, Mietkürzungen sollten entfallen.

Das, was Sie tun - ist das eine schwere oder eine erfüllende Arbeit?

Beides. Ich schaffe Perspektiven für die Menschen, das erfüllt mich. Schwierig wird es, wenn sie mutlos sind und aufgeben. Das kann bereits passieren, weil eine Alleinerziehende nur einen Teilzeit-Kitaplatz bekommt und deshalb nicht arbeiten kann. Dann ist es unsere Aufgabe, dranzubleiben, Hilfe anzubieten und zu coachen. Das ist für mich eine fürsorgliche Belagerung.

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