Verkehrssünder:Im Land der Raser

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(Foto: Chuttersnap/Unsplash)
  • Vor fünf Jahren hat die Flensburger Behörde ihr Punktesystem für Vergehen im Straßenverkehr generalüberholt.
  • Das erneuerte Verkehrssünderregister hat durchaus eine gewisse Erziehungswirkung; die Fakten zeigen aber auch, dass der Einfluss der Behörde begrenzt ist.

Von Hendrik Munsberg

Warum werden friedlich-freundliche Menschen zu Rasern und Rüpeln, sobald sie auf vier Rädern im Straßenverkehr unterwegs sind? Der Münchner Sozialpsychologe Dieter Frey hat eine simple Erklärung: "Weil sie durch vermeintliche Anonymität im Auto ihren wahren Charakter zum Vorschein kommen lassen - vor allem, wenn sie gefrustet sind oder unter Zeitdruck stehen." "Dann", so Frey, "staut sich ein Aggressionspotenzial an, das irgendwann abgeführt werden muss."

Für Aggressionen auf Deutschlands Straßen ist eine Behörde im Norden der Republik zuständig: das Flensburger Kraftfahrtbundesamt. Hier wird die berühmt-berüchtigte Verkehrssünderkartei geführt, jeder fünfte von insgesamt 53 Millionen Führerscheinbesitzern ist dort registriert. Ein Referat aus 150 Mitarbeitern verwaltet die nationale Punkte-Buchhaltung. Akribisch sind alle Frevel festgehalten, bei denen Autofahrer erwischt werden - die Bierchen zu viel und der Bleifuß.

Fünf Jahre ist es her, da verursachte das Amt in Flensburg Wirbel. Bundesweit berichteten TV-Sender und Zeitungen: Ein generalüberholtes Punktesystem tritt in Kraft. Alarm für Deutschlands Autofahrer. Das war am 1. Mai 2014.

Doch heute ist immer noch völlig offen: Was hat die Reform gebracht? Trägt der Aufwand Früchte, oder war alles viel Lärm um nichts? Diesen Mittwoch treffen sich Fachleute aus der gesamten Republik zum Deutschen Verkehrsgerichtstag in Goslar. Alljährlich werden dort die drängenden Fragen des Straßenwesens verhandelt. Der interessanteste Programmteil diesmal: "Punktereform auf dem Prüfstand".

Bisher haben weder Bundesverkehrsministerium noch Kraftfahrtbundesamt (KBA) eine Reformbilanz vorgelegt. Nur so viel steht fest: Der damalige Verkehrsminister Peter Ramsauer wollte am Ende seiner Amtszeit einen kleinen Fußabdruck hinterlassen. Der CSU-Mann versprach, künftig werde es "gerechter und transparenter" zugehen. Zudem wollte Ramsauer für mehr Sicherheit auf den Straßen sorgen, "Rowdys" werde er "zur Räson" bringen, kündigte er an.

Hat das geklappt? Recherchen bei KBA, Ministerien und ADAC ergeben ein klares Bild: Das runderneuerte Verkehrssünderregister hat durchaus eine gewisse Erziehungswirkung, vor allem hat es jetzt ein besseres Gedächtnis für grobe Vergehen, wie etwa das Überfahren einer Ampel, die schon länger als eine Sekunde Rot zeigt. Die Fakten illustrieren aber auch: Der Einfluss der Flensburger Behörde auf die Verkehrssicherheit hat Grenzen. Entscheidend dafür, ob sich Autofahrer zügeln oder ob sie die Sau rauslassen, ist auch: Wie oft gibt es Polizeikontrollen, wie abschreckend sind die Bußgelder? Da sehen Fachleute Defizite. Zunächst aber ist ein kurzer Rückblick nötig. Was hat sich seit Mai 2014 geändert?

Seit damals ist der Führerschein schon bei acht Punkten weg, früher waren dazu 18 Punkte nötig. Im Gegenzug werden einzelne Verkehrsverstöße aber nur noch mit höchstens drei Punkten geahndet, zuvor konnten es bis zu sieben Punkte sein. Wer beispielsweise mit 0,5 bis 1,09 Promille am Steuer erwischt wird, bekommt heute zwei Punkte (siehe Grafik), früher waren es vier. Und es gibt Vergehen, die seit 2014 ohne Punktstrafe bleiben, weil sie keine Sicherheitsgefahr bedeuten. Das gilt zum Beispiel, wenn jemand ohne Plakette in Umweltzonen fährt.

Ramsauer hat erreicht, was er wollte

Gravierende Delikte, die mit zwei Punkten bestraft werden, bleiben seit 2014 aber viel länger in Flensburg gespeichert - nämlich fünf Jahre statt nur zwei, wie früher. Das hat spürbare Folgen. Standen zum Reformstart 2014 noch 8,85 Millionen Autofahrer mit Delikten in der Flensburger Kartei, wurden es 2017 schon erheblich mehr, nämlich 10,1 Millionen. Zahlen für 2018 gibt es noch nicht, doch der Trend ist unübersehbar: Leichte Verstöße verschwinden schneller aus dem Register, schwere stehen länger zu Buche. Da hat Verkehrserzieher Ramsauer erreicht, was er wollte.

Zudem gibt es jetzt immer häufiger unangenehme Post aus Flensburg. Weil sich auf ihrem Konto vier bis fünf Punkte angesammelt hatten, wurden 2014 etwa 161 000 Autofahrer mit einer "Ermahnung" bedacht, bis 2017 stieg diese Zahl sogar sprunghaft an auf fast 196 000. Auch die "Verwarnungen" (bei 6 bis 7 Punkten) nahmen im gleichen Zeitraum merklich zu - von etwa 31 000 auf knapp 37 000. Das ist die neue Flensburger Verkehrserziehung mit dem pädagogischen Zeigefinger.

Manche rasen einfach weiter

Einige Sünder hat das wenig beeindruckt. Von 2014 bis 2017 wurden etwa 4000 Führerscheine pro Jahr entzogen - eine erstaunlich kleine Zahl; sie steht aber nur für Autofahrer, deren Kontostand in Flensburg auf acht Punkte wuchs. "Mehrfachtäter" also, bei denen die Schwelle überschritten war, an der die Fahrerlaubnis automatisch einkassiert wird.

Das wahre Treiben auf deutschen Straßen macht erst eine andere KBA-Statistik deutlich. Sie zeigt auch, wie oft Gerichte einschreiten müssen, weil sie es mit Straftaten im Verkehr zu tun haben, die mit drei Punkten geahndet werden, oder weil sich Fahrer als "ungeeignet" erweisen. In diesen Fällen wurden 2014 fast 100 000 Führerscheine entzogen, eine beachtliche Größenordnung. Bis 2017 sank die Zahl nur leicht, auf knapp 95 000. An erster Stelle standen Alkohol- und Drogeneinfluss, zum Beispiel Fahrten von 1,1 Promille an.

Viel öfter verhängen Richter kürzere Fahrverbote

Das ist längst nicht alles. Noch viel häufiger verhängen Richter und Bußgeldbehörden ein- bis dreimonatige Fahrverbote wegen grober Ordnungswidrigkeiten; zum Beispiel, wenn Autofahrer die 0,5-Promille-Grenze missachten. 2014 waren das insgesamt 400 000 Fälle, drei Jahre später, 2017, sogar 456 000.

Bleibt festzuhalten: Auf etwa eine halbe Million Missetäter jährlich hatte die Flensburger Punktekartei offenbar keine besonders abschreckende Wirkung; der Fairness halber muss man hinzufügen: Sie allein kann das wohl auch nicht bewirken.

CSU-Verkehrsminister Andreas Scheuer zieht eine positive Bilanz: Der Punktekatalog sei "entrümpelt" und so "einfacher, gerechter und transparenter" geworden. "Autofahrer, die die Sicherheit des Straßenverkehrs gefährden", betont Scheuer, blieben "jetzt länger gespeichert als früher". Sie müssten "mit Maßnahmen bis hin zur Entziehung der Fahrerlaubnis rechnen", so der Minister, "das ist auch gut so - Rowdys haben im Straßenverkehr nichts zu suchen." Der ADAC urteilt ebenfalls positiv. Das neue System sei für die Betroffenen "berechenbarer" geworden, findet Vizepräsident Ulrich Klaus Becker.

Bei Geschwindigkeitsübertretungen "wie ein Discounter"

Für die Verkehrssicherheit ist aber nicht nur der Punktekatalog entscheidend, sondern auch ein anderer Faktor - die Häufigkeit von Polizeikontrollen. Michael Mertens, Vizechef der Polizeigewerkschaft GdP, weiß warum: "Ohne Kontrollen keine Anzeigen und auch keine Punkte." Mertens stellt einen beunruhigenden Befund: "Der Kontrolldruck auf den Straßen lässt deutlich nach, und damit steigt das Risiko von schweren Verkehrsunfällen." Grund sei die in allen Bundesländern angespannte Personalsituation bei der Polizei, verursacht durch Großeinsätze wie im Hambacher Forst oder bei Krawallen in Fußballstadien. Für Kontrollen an den Straßen bleibe immer weniger Zeit. Mertens mahnt, "die Verkehrsüberwachung braucht wieder mehr Aufmerksamkeit."

Der GdP-Vizechef sieht aber noch eine Schwachstelle. Die Bußgelder, fordert er, müssten bei manchen Delikten deutlich erhöht werden, insbesondere bei "Gefahrentatbeständen" wie Geschwindigkeitsübertretungen oder zu geringem Abstand. "Im europäischen Vergleich", kritisiert Mertens, "sind wir der Discounter."

Und wirklich: Wer in Deutschland etwa 20 Kilometer pro Stunde zu schnell fährt, muss nur 30 bis 35 Euro Strafe zahlen, in den Niederlanden sind dafür mindestens 165 Euro fällig, in Italien sogar Minimum 170 Euro; bei größeren Tempoverstößen wird der Unterschied sogar noch krasser (siehe Grafik). Tatsächlich zeigt ein Blick ins Flensburger "Fahreignungsregister": Die mit Abstand häufigsten Delikte sind Tempoüberschreitungen, gefolgt von Vorfahrtsverletzungen und vorschriftswidrigem Abbiegen. Das größte Kontrolldefizit sieht Mertens auf Landstraßen. Dort werde oft viel zu schnell gefahren, was häufig zu schweren Unfällen führe. Anlass zu handeln gäbe es durchaus, 2018 starben 3220 Menschen im Straßenverkehr, 393 000 wurden verletzt; nach Jahren des Rückgangs wieder ein Anstieg.

Von wegen "Idiotentest" oder "Depperltest"

Wenn der Verkehrsgerichtstag jetzt in Goslar die neue Verkehrssünderdatei bewertet, wird es vor allem um ein Thema gehen: die "Fahreignungsseminare". So heißen im Amtsdeutsch jene Kurse, bei denen Übeltäter Punkte abbauen dürfen. Bis 2014 konnte man so bis zu vier Punkte tilgen, beim Stand von 14 Punkten war das sogar Pflicht, freiwillig ging es aber schon eher. Doch Ramsauer wollte dieses "Freikaufen" einschränken. Jetzt gibt es nur noch Minirabatt, einen einzigen Punkt.

Dafür sind die Seminare aufwendiger und psychologisch anspruchsvoller geworden - von wegen "Idiotentest"; oder "Depperltest", wie man in Bayern lästert. Die neuen Kurse sind aber auch viel teurer. Was früher rund 200 Euro kostete, schlägt nun mit 650 Euro zu Buche. Kein Wunder, dass die Teilnehmerzahlen - 2000 jährlich - bescheiden ausfallen. Gerhard Hillebrand, Anwalt für Verkehrsrecht und ADAC-Präsident in Schleswig-Holstein, wird dazu in Goslar ein Impulsreferat halten. Er will, dass Seminarteilnehmern wieder größerer Punkterabatt gewährt wird. "Da", so Hillebrand, "war das alte System besser."

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