Bildungsgerechtigkeit:Von der Uni an die Brennpunktschule

Bildungsgerechtigkeit: Carolin Ahlers hat einen Master in Nachhaltigkeitswissenschaft, jetzt aber bringt sie erst einmal Avin, Asmaa, Asraa, (v.l.) und anderen Schülern etwas bei.

Carolin Ahlers hat einen Master in Nachhaltigkeitswissenschaft, jetzt aber bringt sie erst einmal Avin, Asmaa, Asraa, (v.l.) und anderen Schülern etwas bei.

(Foto: Jan-Martin Wiarda)

Seit zehn Jahren gibt es die Initiative Teach First: Uniabsolventen helfen an Schulen. Was die einen loben, kritisieren andere scharf. Wer hat recht?

Von Jan-Martin Wiarda

Das könnte was für dich sein, hatte ein Freund gesagt und ihr den Link geschickt. Doch als Carolin Ahlers auf die Website von Teach First Deutschland klickte, kamen ihr Zweifel. Sie? Den ganzen Tag mit irgendwelchen Kids? "Ich bin doch eher der Typ fürs Konzeptionelle", sagte sie sich. Das war 2016.

Mittlerweile arbeitet Ahlers, 29, seit bald zwei Jahren im Programm von Teach First, als eine von deutschlandweit 169 Fellows, die an Schulen für mehr Gerechtigkeit sorgen sollen. Denn das ist der Auftrag, den sich Teach First gegeben hat: zu mehr Gerechtigkeit beitragen in einem Land, das seine Bildungschancen immer noch stark anhand der sozialen Herkunft verteilt. Deshalb verteilt die Initiative ihre Fellows überall dorthin, wo der Anteil benachteiligter Schüler besonders hoch ist. Und deshalb kniet Carolin Ahlers an diesem Januartag auf dem Linoleumfußboden eines Klassenzimmers in Oranienburg bei Berlin und formt aus Klebestreifen einen überdimensionierten Apfel.

Was das soll? Das fragen sich auch die 13 Schüler, die vor Ahlers sitzen: neun Jungs und vier Mädchen zwischen 13 und 16 Jahren. Sie stammen aus Iran, aus Tschetschenien, aus Libyen, Polen und Afghanistan. Einige von ihnen sind erst seit wenigen Monaten in Deutschland, andere, wie der 14 Jahre alte Ahmed, seit vielen Jahren. Sieben Jahre sind es bei Ahmed, sechs davon hat er größtenteils in Krankenhäusern verbracht. Im libyschen Bürgerkrieg hat eine Rakete das Haus seiner Familie getroffen und ihn an den Beinen schwer verletzt.

Ahlers stellt fünf Teller mit aufgeschnittenen Äpfeln aufs Lehrerpult und erklärt: Sie werden die Stücke probieren, vom Roten Boskoop bis zum Topaz. Sie werden beschreiben, welcher Apfel wie schmeckt. Die Merkmale für jede Sorte notieren, in Gruppen darüber sprechen. Am Ende gibt es dann ein Ratespiel: Wer erkennt die unbekannte Apfelsorte?

Doch zuerst stellen sie sich alle um den auf den Boden geklebten Apfel herum und lernen die Wörter kennen, die seine Bestandteile bezeichnen: den Stiel, das Blatt, den Kern, das Fruchtfleisch. Ahmed spricht es nach, langsam, bedächtig und völlig akzentfrei.

Das ist es, was Teach First ausmacht: Die Fellows sind herausragende Uniabsolventen, vor denen glänzende und oftmals lukrative Karrieren liegen. Die wenigsten wollen Lehrer werden. Doch sie sind bereit, ihre Ambitionen für 24 Monate aufzuschieben, ein strenges Auswahlverfahren zu durchlaufen und dann für etwa 2000 Euro brutto in Vollzeit die Lehrer vor Ort zu unterstützen. Mit ihren kreativen Ideen. Mit einer Perspektive, die im Zweifel ganz anders ist als die eines studierten Pädagogen.

Carolin Ahlers zum Beispiel hat einen Master in Nachhaltigkeitswissenschaft, während des Studiums hat sie bei Greenpeace gearbeitet und danach für die Kampagne "Meine Landwirtschaft". Mit ihrer heutigen Apfel-Übung will sie den Jugendlichen nicht nur Vokabeln beibringen, sondern auch ein Bewusstsein für Ernährung und Biodiversität.

Als Teach First in Deutschland 2009 von einer Absolventin der privaten Hertie School of Governance gegründet wurde, erregte das Programm viel Aufsehen. Ein Lebenslaufverschönerungsprogramm für Streber sei das, unterstützt von wirtschaftsnahen Stiftungen. Ein Demotivationsprogramm für echte Lehrer, die jahrelang studieren, manchmal Jahrzehnte an Unterrichtserfahrung sammeln, um sich dann von naseweisen Fellows ihren Job erklären zu lassen.

Die Kritiker von Teach First klingen gemäßigter

Doch es gab auch viele positive Schlagzeilen, wie kaum eine zweite Initiative stand Teach First für die Hoffnung, Deutschlands Schulen würde nach dem Pisa-Schock mit neuen Konzepten und gesamtgesellschaftlicher Unterstützung der Aufbruch zu mehr Bildungsgerechtigkeit gelingen. Was ist zehn Jahre und 615 Fellows später davon Wirklichkeit geworden?

Die Gründerin von damals, Kaija Landsberg, ist inzwischen in die Geschäftsführung der Hertie-Stiftung aufgestiegen. Sie sagt, bis heute seien es für sie die bewegendsten Momente, Fellows bei ihrer Arbeit zu beobachten, wenn es gut läuft. "Gleichzeitig packt mich die Wut, wenn ich feststelle, wie wenig sich in den zehn Jahren geändert hat." Landsbergs Nachfolger bei Teach First, Ulf Matysiak, nennt auf der Habenseite die große Zahl motivierter Bewerber und die Offenheit der Schulen, sich auf sie einzulassen. "Dass sich seit 2009 der gesellschaftliche Blick auf Brennpunktschulen und, ebenso wichtig, ihr eigenes Selbstverständnis geändert haben, hat auch mit Teach First zu tun." Doch die Erwartungen an die Initiative, sie könne das Bildungssystem aus den Angeln heben, seien zu hoch gehängt gewesen.

Auch die Kritiker von Teach First klingen heute gemäßigter als ihre Vorgänger vor zehn Jahren. Für die Schulen vor Ort seien die Fellows hilfreich, sagt Kai Maaz vom DIPF-Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. "Aber die Effekte für die Entwicklung der Schulen als Ganzes bleiben unklar, und was mir völlig fehlt, sind fundierte Wirkungsanalysen neben all den Hochglanzbroschüren." Ilka Hoffmann, die Schulexpertin der Bildungsgewerkschaft GEW, sagt, für viele Fellows sei die Zeit bei Teach First eine prägende Erfahrung, "weil sie oft zum ersten Mal mit Menschen aus einem anderen sozialen Milieu in Kontakt kommen." Aber: "Fellows können nie ausgebildete Lehrkräfte ersetzen."

Motivation, Belastbarkeit, Gespür

Während bei der Gründung von Teach First vor zehn Jahren das Thema Lehrermangel an deutschen Schulen kaum eine Rolle spielte, kommen die Fellows heute in Kollegien mit einer wachsenden Zahl von Quereinsteigern. GEW-Schulexpertin Ilka Hoffmann sieht beide Gruppen denn auch als Ausweis derselben Entwicklung. "Das bedenkliche Motto lautet: Egal, wer unterrichtet, Hauptsache, da ist jemand." Teach-First-Geschäftsführer Ulf Matysiak kann das nicht nachvollziehen. "Die Quereinsteiger geben eigenverantwortlichen Unterricht, die Fellows tun das nicht." Und während die Kultusministerien Quereinsteiger allein nach ihrem zum Mangel passenden Studienfach aussuchten, verfahre Teach First genau umgekehrt: "Für uns ist alles Mögliche von Bedeutung, aber nicht das konkrete Fach." Stattdessen überprüfe man in einem mehrstufigen Auswahlverfahren die persönliche Motivation, die Belastbarkeit und das pädagogische Gespür der Bewerber. Anschließend durchlaufen die künftigen Fellows ein dreimonatiges Vorbereitungsprogramm, auch während ihres Einsatzes in den Brennpunktschulen nehmen sie regelmäßig an Fortbildungen teil. Viele der Quereinsteiger dagegen klagen über mangelnde Unterstützung gerade in der Anfangsphase, dabei sollen sie im Gegensatz zu den Fellows nicht nur zwei Jahre bleiben. Im Moment arbeitet Teach First mit acht Bundesländern zusammen. Die 111 Fellows des Jahrgangs 2018 gingen nach Nordrhein-Westfalen, Berlin, Brandenburg, Hamburg, Schleswig-Holstein, Sachsen, Baden-Württemberg und Hessen. Die Kultusministerien zahlen das Gehalt und die Qualifizierung der Fellows. Jan-Martin Wiarda

Das sollen sie allerdings auch gar nicht, die Fellows werden begleitend eingesetzt, im Unterricht, in Arbeitsgemeinschaften, im Coaching, in der Sozialarbeit. Carolin Ahlers betreut in Oranienburg geflüchtete und zugewanderte Schüler in zwei sogenannten Vorbereitungsklassen, die parallel und mit wachsendem Anteil den Regelunterricht besuchen. Sie hört Anahid zu, wenn die sagt, dass sie gern deutsche Freunde hätte, dass sie Heimweh nach Iran bekommt, wenn sie ein bestimmtes Lied im Radio hört. Sie hilft Eltern im Umgang mit Behörden. Und sie korrigiert Ahmed geduldig, wenn er beim Apfeltest "süß" und "säuerlich" verwechselt. "Wie ich sehe, mögt ihr den Lieblingsapfel der Deutschen am liebsten", sagt sie grinsend, als der Teller mit dem Elstar fast abgeräumt ist.

Große Wirkung im Kleinen, kaum Wirkung im Großen - lässt sich so die Bilanz von Teach First beschreiben? Womöglich nicht ganz. Immer deutlicher zeigt sich eine zweite Erfolgsebene, über die sich 2009 unter dem plakativen Buzzword "Leadership"-Programm nur spekulieren ließ: Die Fellows von einst, angekommen in einflussreichen Positionen, verfolgen als kaum sichtbares Netzwerk das Ideal von mehr Bildungsgerechtigkeit weiter. So stammt eine der am meisten beachteten Schulgründungen der vergangenen Jahre von zwei Teach-First-Ehemaligen: die private Quinoa-Schule in Berlin-Gesundbrunnen, die einen erstaunlich hohen Anteil ihrer meist bildungsfernen Jugendlichen zu einem Abschluss führt.

Die bildungspolitische Sprecherin der Berliner SPD-Abgeordnetenhausfraktion, Maja Lasić, gehörte zum ersten Teach-First-Jahrgang und gilt nun als Initiatorin der bundesweit beachteten Gehaltszulage für Lehrer an Brennpunktschulen. Oder Valentin Altenburg, der die deutsche Hockey-Mannschaft zum Olympia-Bronze coachte: Er war Fellow in Hamburg. Bis heute besucht er Teach-First-Schulen und nimmt dann Spieler mit, um ihnen eine Wirklichkeit zu zeigen, die sie sonst nicht sehen. Besonders gern auf Auslandsreisen, zum Beispiel nach Indien, wo eine der internationalen Teach-First-Schwesterorganisationen existiert.

Am Ende der Stunde umringen die Jugendlichen Carolin Ahlers, Anahid, Wiktor, Milosz, Farbod, alle reden gleichzeitig auf sie ein. Ahmed steht ein paar Schritte abseits und erzählt, dass er Ingenieur werden will. "Den Mut, das zu sagen, habe ich noch nicht lange."

Ebenfalls nicht mehr lange, und die Zeit von Ahlers als Fellow ist vorbei. Ihr Schulleiter hat ihr gesagt, dass sie bleiben kann, wenn sie will. "Die Art und Weise, wie sie mit den Jugendlichen Beziehungen knüpft, ist bemerkenswert", sagt Axel Klicks. Sie entlaste die Lehrer und gebe den Jugendlichen, was im Schulalltag am knappsten sei: Zeit. Ahlers selbst sagt nicht, was sie vom Sommer an tun wird. Aber sie sagt: "Ich weiß nicht, ob Arbeit mir schon einmal so viel Sinn gegeben hat." So viel zum Thema, sie sei eher der Typ fürs Konzeptionelle.

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