Theater:Nachladen am Getränkewagen

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Karin Beyers Inszenierung von "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" am Hamburger Schauspielhaus ist ein hochprozentiges Rennen ins gemeinsame Unglück.

Von Alexander Menden

Martha und George haben schon beim ersten Auftritt ordentlich einen sitzen. Aber noch tauschen die Kombattanten ihre Bosheiten im Parlando-Ton aus. Eine der schönsten, die zugleich nach Aufforderung klingt, hat Martha parat: "Ich glaube, das ist mir das Allerliebste an dir: dein Zorn." Eine Art Präventivschlag, denn George, gewandet ins Khaki- und Schlammbraun des akademischen Mittelbaus, hält zwar beim Trinken mit, aber bisher ist er eher passiv-aggressiv mit seinen zweischneidigen Komplimenten und seinen unterbrochenen Angeboten, den nächsten Drink zu mixen. Martha scheint dagegen schon voll auf Krawall gebürstet zu sein, unausgesetzt rauchend und jede alkoholische Herausforderung annehmend. Der Gang zum Getränkewagen wird zum Boxenstopp des von Hochprozentigem angetriebenen Rennens ins gemeinsame, permanente Unglück.

Den Herausforderungen dieses toxischen Kammerspiels begegnet die Regisseurin souverän

Kaum ein Möbelstück verankert eine Szene ja so exakt in einer Epoche wie der Getränkewagen. Es war die Epoche des schichtenübergreifenden, gemeinschaftlichen Zuvieltrinkens und Dauerqualmens, in der sich die Vorhänge nikotingelb färbten und jede informelle Zusammenkunft in einem Nebel gesellschaftlich sanktionierter Selbstvergiftung mündete. Es verheißt also Gutes, dass an diesem Abend gleich zwei dieser Wagen voll klimpernder Flaschen die Bühne des Hamburger Schauspielhauses flankieren. Denn Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?", 1962 uraufgeführt, ist geradezu ein dramatisches Monument seiner Entstehungszeit. Die Geschlechterdynamik, die Generationenpolitik und, natürlich, die ungenierte Sauferei - "Brandy Alexander, Punsch flambiert, siebenfarbige Drinks" - das alles ist geradezu lächerlich emblematisch für die frühen Sechzigerjahre. Zudem schwebt über jeder Version dieser Pärchenkampfchoreografie Mike Nichols' Filmversion von 1966 mit Elizabeth Taylor und Richard Burton, deren stieläugig-verschwitzte Hassliebe für immer einzigartig bleiben wird. Kein Filmemacher hat sich je an ein Remake gewagt.

Regisseurin Karin Beier weiß das alles, und sie begegnet den Herausforderungen dieses toxischen Kammerspiels souverän. Sie lässt Albees Quartett in der Übersetzung von Alissa und Martin Walser, abgesehen von ein paar vergleichsweise unaufdringlichen Updates, als genau das ausspielen, was es ist: eine bereits zu Beginn ziemlich aufgelöste After-Party-Party, bei der ein älteres Paar, Martha, die Tochter des Universitätsdirektors und George, Geschichtsprofessor, ein jüngeres Pärchen, den Biologieprofessor Nick und seine Frau, die mit dem Namen "Süße" auskommen muss, einladen und dann in die gegenseitige verbale Verhackstückung hineinziehen. Baier verlegt das Ganze in eine Art Zen-Garten, beleuchtet von sechs kugeligen Reispapierlampen und dominiert von einem Baumstamm, der in den Schnürboden ragt wie eine Manifestation all der Bäume, gegen die in den Erzählungen des Abends mit tödlichem Ausgang geknallt wird.

Eine solch überschaubare und wortlastige Konstellation wie "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" steht und fällt jedoch vor allem mit der Besetzung, und auch da lässt Baiers Produktion wenig zu wünschen übrig. Vor allem Maria Schrader ist ein Glücksgriff. Als Martha wirkt sie wechselweise aggressiv, lasziv, verletzlich, arrogant und resigniert. Elegant stolpert sie in vollendeter Mimikry der noch nicht ganz abgefüllten Pegeltrinkerin auf ihren hohen Absätzen an der Rampe entlang; lacht wie ein Maschinengewehr; verführt beinahe nebenher in einer unvergleichlich lässigen Melange aus Verachtung und emotionaler Bedürftigkeit den Jungakademiker Nick. Und kommt bei alledem doch erst ganz zum Schluss vollends aus der Deckung, als klar wird, welch absurde, tragische Fantasie George und sie in zwei Jahrzenten Ehe heimlich miteinander geteilt haben. Das ist für den Zuschauer angenehm anstrengend und euphorisierend zugleich, auf jene packende Weise, die nur die Bühne bereithält.

Matti Krause spielt den jungen Dozenten als wohlkalibrierte Schwächlingsfigur

Devid Striesow lässt die Dienstpflichten als Saarbrücker "Tatort"-Kommissar ruhen, um nach längerer Abwesenheit ins Theater zurückzukehren. Es scheint, als kanalisiere er für George seinen inneren Harald Juhnke - und zwar zu gleichen Teilen den Showtreppen- wie den späten, kaputt-genialen Juhnke. Die sarkastische, ja boulevardeske Fröhlichkeit, mit der er allen immer wieder Schnaps aufdrängt, sie zu Spielen wie "Fick die Hausfrau" und "Gib's dem Gast" auffordert, und die im Laufe des Abends immer mehr resignierter Verzweiflung Platz macht, ist ein Bravourstück organischer Figurenentwicklung. Seine Albernheiten deuten Abgründe an, seine Aggression verdeckt unzulänglich seine Schwäche. Das einzige, woran es zwischen Striesow und Schrader mangelt, ist die überzeugende Suggestion jener tieferliegenden physischen Anziehung, die trotz all des Hasses nie verloren ging. Dafür sind sie durchgehend, was sie sich beide wünschen: ebenbürtige Gegner.

Ebenbürtig sind Nick und die "Süße", die Junioren in diesem Vierecksstück, naturgemäß nicht - eher undankbare Rollen, aus denen Matti Krause und Josefine Israel allerdings das Maximum herausholen. Krause zeigt Nick als wohlkalibrierte Schwächlingsfigur. Er will sich offenkundig nicht die Chance als aufstrebender Dozent versauen, was ihn hemmt; zudem fehlt ihm das nötige Testosteron - sowohl für die Verbalduelle mit George als auch für die von Martha geforderte sexuelle Dienstleistung. Josefine Israel wirft sich mit neurotischer Verve in die von Klischees - Stichwort "hysterische Schwangerschaft" - gespickte Figur der unbedarften Blonden, die mit überraschend erfreuter Erregung reagiert, als zwischendurch kurz Gewalt ausbricht und sonst mit dem Erbrechen kämpft. Doch die Gewalt bleibt meist sublimiert, dafür wieder brechen sich zu Beethoven- und Vivaldi-Klängen Anspannung und Animosität in gewagten Choreografien Bahn und wird der Tanz zur Ersatzhandlung für weitaus Bedrohlicheres.

Karin Beier zeigt, gerade, indem sie "Wer hat Angst..." weitgehend in seinem ursprünglichen Kontext belässt, den inversen Affront, den es jetzt darstellt: Was früher eine von verordnetem Optimismus und Konformität geprägte amerikanische Gesellschaft als hohl und verlogen entlarven sollte, versteht sich heute, da die Dystopie im Großen wie im Kleinen zum Normalfall geworden ist, von selbst. Der Skandal scheint nun zu sein, dass Martha und George sich nicht einfach trennen. Dass es da etwas gibt, das diese beiden Menschen trotz des unerfüllten Kinderwunschs und den daraus resultierenden, selbstquälerischen Fantastereien zusammenschweißt. Die Hoffnung, die Albee durch die bewusste Aufgabe des imaginären gemeinsamen Sohns aufglimmen lässt - diese Hoffnung ist, so schwach sie auch sein mag, mittlerweile womöglich die größte Zumutung.

© SZ vom 22.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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