European Campus Rottal-Inn:Eine internationale Hochschule, mitten in der Provinz

European Campus Rottal-Inn

Der European Campus Rottal-Inn - die Umgebung wirkt nicht direkt international, die Ausbildung ist es aber.

(Foto: Armin Weigel)

In Pfarrkirchen hat die Hochschule Deggendorf einen erfolgreichen Ableger gegründet. Das ist eine Chance für die ganze Region.

Von Anna Günther

Auf der grauen Wiese zwischen Gewerbegebiet, Pferdeställen und Bahngleisen frieren drei Raucher vor einem schlichten Haus. Die zwei Afrikaner und der Inder unterhalten sich auf Englisch. Neben ihnen flattern Fahnen in der eisigen Luft, darauf steht "European Campus Rottal-Inn - Deggendorf Institute of Technology". Das Herz Europas hatten manche sich anders vorgestellt. "Als ich endlich hier war, konnte ich gar nicht aufhören, zu weinen", sagt Camila Salas aus Chile. Sie meint: vor Glück. Es sei ihr Traum gewesen, in Pfarrkirchen zu studieren.

Pfarrkirchen, 13 000 Einwohner, liegt im Rottal im tiefsten Niederbayern, einer Region, die einst für ihre Rösser berühmt war. Heute wirbt die Technische Hochschule Deggendorf mit dem "Heart of Europe", dem Herzen Europas, und versucht, Studenten aus aller Welt anzulocken. Hunderte Kilometer von London, Madrid und Paris entfernt. Vom Campus zum Stadtplatz mit dem Wimmer-Ross sind es anderthalb Kilometer, nach München 130 Kilometer.

Seit 2014 sprießen in Bayern die Hochschulstandorte weitab der Universitätsstädte wie Löwenzahn auf der Wiese. Die Professoren in Pfarrkirchen haben Pionierarbeit geleistet: Der Campus ist eines der ersten Land-Projekte - und dort wird nur Englisch gesprochen. Einzigartig im Freistaat. Die 17 Hochschulen für angewandte Wissenschaften und Technischen Hochschulen haben insgesamt 47 Standorte. Dazu kommen sieben Universitäten, die Musikhochschulen sowie Helmholtz- und Max-Planck-Forschungszentren. Allein die Technische Hochschule Deggendorf (THD) zählt sieben Dependancen, die achte ist in Metten geplant. Für Wissenschaftsminister Bernd Sibler (CSU) ist diese Standortpolitik ein "Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit". Eine Hochschule in der Nähe könne über Karrieren entscheiden. "Ich konnte studieren, weil ich zuhause wohnen und pendeln konnte", sagt er.

Die Rechnung ist einfach: Hochschulen bringen Perspektiven für Schüler, Weiterbildung für alle und Forschung sowie Innovation für Unternehmen. Das zusammen ergibt eine prosperierende Region. Bei den ersten, 1971 gegründeten Fachhochschulen ging die Rechnung auf. In den Neunzigerjahren folgten weitere wie Amberg-Weiden oder Deggendorf. Seit 2014 hat sich die Zahl der Standorte vervielfacht. 2018 gab die Staatsregierung für 13 weitere Einrichtungen 31 Millionen Euro aus. Bürgermeister und Landräte stehen im Ministerium Schlange. Sie versprechen sich von Studenten wie Camila Salas Kaufkraft, sehen in ihnen künftige Fachkräfte. Und zufriedene Lokalpolitiker bedeuten weniger Ärger für die Staatsregierung.

Aber es gibt auch Kritik am Ausbau: Sogar Professoren fragen sich, wieso jedes "Kuhkaff" eine eigene Hochschule brauche. Das Ministerium hält den Begriff "Schubkraft" entgegen. Allerdings wolle man sich künftig auf "nachhaltige Entwicklung der bestehenden Standorte konzentrieren".

"Ich hatte ja keine Ahnung, dass Pfarrkirchen ein Dorf ist"

"Kuhkaff" würde Georg Riedl nie sagen. "Pfarrkirchen war ein weißer Fleck auf der Hochschulkarte, hier war nichts", sagt der Altbürgermeister. In den Neunzigern hatte er die Idee zu einer Hochschule, sprach oft in der Staatskanzlei vor. 2014 sagte der damalige Ministerpräsident Horst Seehofer schließlich zu. Riedl musste weiter bangen. Die Hochschule stand auf der Kippe. Andere Bürgermeister seien neidisch gewesen, sagt er. CSU-Abgeordnete protestierten in München. Riedl und THD-Präsident Peter Sperber warfen das Konzept um und erfanden den internationalen Campus im Herzen Europas.

Im Herbst 2015 ging es schließlich los. Von den ersten 172 Studenten kamen 140 aus dem Ausland. "Dass sich sofort so viele anmeldeten, war für uns alle überraschend", sagt Horst Kunhardt, der Leiter des European Campus und Vizepräsident Gesundheit der THD. Und warum haben sie sich fürs Rottal entschieden? Die Antwort der Studenten ist einfach: Zufall. Die Studiengänge klangen auf der DAAD-Homepage (Deutscher Akademischer Austauschdienst) gut, Hochschulsprache ist Englisch, das Studium quasi gratis. Von Pfarrkirchen hatten sie noch nie gehört.

Aber englischsprachige Studiengänge sind abseits der Ballungszentren rar. Die Chilenin Salas kannte Bayern und suchte eine Hochschule, um oft Skifahren zu können. Für Dumtochi Ezenwa war es eine Kostenfrage: Der Bachelor kostete ihren Vater 50 000 Pfund. Den Master hätte sie selbst finanzieren müssen. Die Nigerianerin orientierte sich um, weg aus London, "wo die Leute einen auf dem Weg zur U-Bahn überrennen". Sie fand den "Bachelor of Health Informatics". "Aber ich hatte ja keine Ahnung, dass Pfarrkirchen ein Dorf ist", sagt Ezenwa und lacht. Nach neun Monaten schwärmt sie von der Idylle und Verkäuferinnen, die Croissants verschenken.

Mittlerweile lernen 700 Studenten aus 56 Nationen in Pfarrkirchen, es gibt drei Bachelor- und drei Masterstudiengänge in Gesundheitswissenschaften, Tourismus und nachhaltigem Bauen. Das Gebäude auf der Wiese sieht innen aus wie andere Hochschulen. Seminarräume voller Tischreihen, plaudernde Studenten in der Cafeteria. Geht es nach THD-Präsident Sperber, sollen noch deutlich mehr nach Pfarrkirchen kommen. Von bis zu 2000 Studenten in zehn Studiengängen ist die Rede. Zum Wintersemester 2019 soll Pfarrkirchen zur eigenständigen Fakultät werden.

Und was bietet der Campus den Studenten? Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind ohnehin gefragt. Die Schnittmenge aus Gesundheitswissenschaften und Tourismus werde ihnen im Bäderdreieck Jobperspektiven eröffnen, sagt Gründungsdekan Christian Steckenbauer. Gesundheitstourismus liegt im Trend, und die Kurorte im Rottal sowie im Landkreis Passau haben eine lange Tradition.

Pfarrkirchner reagieren "überwiegend positiv" auf die Studenten

Hunderte junge Menschen aus aller Welt, die kein Deutsch sprechen, hinterlassen Spuren in einer Stadt. Die Hochschulidee sei super angekommen, versichert Altbürgermeister Riedl. THD-Präsident Sperber spricht von "Volksfeststimmung". Mit den überraschend zahlreichen Studenten kam dann am Anfang die Ernüchterung: THD-Vizepräsident Kunhardt musste Vermieter, Pensionen und Hotels abtelefonieren, um die jungen Leute irgendwo unterzubringen.

"Da waren die Rottaler zurückhaltend", sagt er. Hausbesitzer, die nicht an Ausländer vermieten wollen, habe es anfangs schon gegeben, sagt Clemens Bergbauer, der Tourismusmanagement studiert. Als Student "der ersten Generation" und als Tutor habe er oft Überzeugungsarbeit leisten müssen. Womöglich auch, weil im Sommer 2015 jeden Tag Flüchtlinge in der Region ankamen. Die einen Ausländer wurden umworben, die anderen kamen ungefragt. Anfangs war im Rottal die Hilfsbereitschaft groß, doch bald mussten auch dort fremdenfeindliche Parolen vom Flüchtlingsheim geschrubbt werden.

"Die politische Landschaft in der Region ist durchwachsen", da stimmt Steckenbauer zu. Aber er erlebe die Pfarrkirchner als "überwiegend positiv". Die jungen Leute würden "in erster Linie als Studenten und in zweiter als Ausländer wahrgenommen". Fremdenfeindliches will niemand in der Runde erlebt haben. Jessica Ortiz spricht lieber von Vorsicht. Die Ärztin begann im Frühjahr 2016 mit dem "Master Medical Informatics". Nach drei Monaten hätten Einheimische gesagt, sie könnten jetzt erkennen, wer Student und wer "nur ein Fremder ist", erzählt Ortiz. Ein "interessanter" Vergleich, sagt sie, die Akzeptanz zu spüren sei aber sehr schön. Sie erklärt das Verhalten mit der Mentalität: "Ich bin Mexikanerin, ich umarme jeden." Deutsche streckten zur Begrüßung die Hand aus. Sie streckt ihren Arm von sich. Ihre Kommilitonen lachen. "Anfangs fühlst du dich zurückgewiesen, aber wir sind die Neuen, die Leute müssen uns kennenlernen", sagt Ortiz, "ich frage jetzt einfach, ob ich umarmen darf."

Die Skepsis habe sich gelegt, betont Bergbauer. Tutoren wie er und die Frauen im "International Office" helfen bei Fragen zu Visa, Verträgen, Versicherung und richtigem Lüften. Bei 56 Nationen sind Missverständnisse normal. Aber auch die Studenten wollen, dass der Campus in der Stadt akzeptiert wird. "Wir sind uns der Verantwortung sehr bewusst", sagt Bergbauer. Es scheint zu klappen: Die Sprachbarriere ist Quelle lustiger Geschichten. Die Studenten schwärmen von engen Freundschaften, sicheren Heimwegen, familiärer Atmosphäre und den Nächten im "Cookies". Die Bar hat ein Student eröffnet, eine zweite soll folgen. "Das Experiment European Campus ist im Echtbetrieb angekommen", sagt Steckenbauer.

Bis die Infrastruktur aufschließt, dauert es: 200 Studentenwohnungen sind in Bau, 60 weitere geplant, das neue Hochschulgebäude soll im Mai fertig sein. "Aber mit 1200 und mehr Studenten kommen wir so nicht weit", sagt Steckenbauer. Noch drängender ist die Verkehrsanbindung. Studenten wie Jessica Ortiz und Dumtochi Ezenwa, die nicht in Pfarrkirchen wohnen, fahren Auto oder trampen.

Trotzdem scheint die Rechnung aufzugehen: Erste Firmen bieten Praktika und Projekte für Studenten an. Der erste Absolvent des European Campus hat den "Master of Medical Informatics" in der Tasche. Der Arzt aus Kenia arbeitet in der Chirurgie des Klinikums Wasserburg am Inn. Für Kunhardt ist er der Beweis, dass internationale Absolventen auch abseits der großen Städte gute Jobs finden.

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