Arbeitsbedingungen:Dienen statt verdienen

Warum wird in der Altenpflege nur so wenig gezahlt - und was bedeutet es für Pflegekräfte, dass nur jeder Siebte Mitglied in einer Gewerkschaft ist?

Von Detlef Esslinger, Berlin

"Unterirdisch", das war das Wort, das Frank Bsirske verwendete. Er sollte erklären, warum seine Gewerkschaft Verdi am Donnerstag dieser Woche für die Passagier-Kontrolleure an den Flughäfen einen Stundenlohn von 19,01 Euro durchgesetzt hat - während sie für Altenpfleger nur 16 Euro fordert. Ist deren Arbeit allen Ernstes weniger wert als die von Kontrolleuren? Haben sie nicht zudem eine Ausbildung absolviert, während die anderen nur angelernt werden müssen?

Frank Bsirske sagt: "Das Sicherheitspersonal hat einen Organisationsgrad von 80 bis 90 Prozent." Das heißt, fast alle von ihnen sind Mitglied bei Verdi. "Die Altenpfleger haben einen unterirdischen Organisationsgrad. Es gibt dort nach wie vor kulturelle Erblasten. Es dominiert die Kultur des Dienens und Helfens. Es fehlt die Kultur des Organisierens."

Immer zu Jahresbeginn geben die acht Gewerkschaften des DGB bekannt, wie sich die Zahl ihrer Mitglieder entwickelt hat. Insgesamt ist sie erneut leicht gesunken, sie haben nur noch gut halb so viele Mitglieder wie 1990 - eine Entwicklung exakt wie bei den Parteien (wohingegen es bei den Kirchen für diese Entwicklung fast 70 Jahre gedauert hat). Doch es gibt Unterschiede. Wieder einmal hat die IG Bau am meisten verloren, die Gewerkschaft der Polizei (GdP) am meisten gewonnen. Verdi gelingt es zwar von Jahr zu Jahr etwas besser, Mitglieder zu gewinnen. Doch reicht die Akquise immer noch nicht, um Austritte und Sterbefälle zu kompensieren. Mit knapp zwei Millionen Mitgliedern ist sie nach der IG Metall weiterhin die zweitgrößte Gewerkschaft. Insgesamt gehören den Organisationen des DGB knapp sechs Millionen Menschen an. Dessen Vorsitzender Reiner Hoffmann sagt: "Wir sind nach wie vor die stärkste Stimme, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben."

Allerdings, die Gesamtzahl besagt nicht, wie stark diese Stimme tatsächlich ist. Das Kerngeschäft von Gewerkschaften besteht in Tarifverhandlungen - die sie mal für ganze Branchen, mal für einzelne Firmen führen. Und immer kommt es darauf an, wie viele Mitglieder sie jeweils hinter sich wissen. Faustregel: Je mehr es jeweils sind, umso erfolgreicher sind sie.

Jörg Hofmann, der Chef der IG Metall, wies bei der Präsentation seiner Zahlen darauf hin, dass er 2018 in der Metall- und Elektroindustrie die Möglichkeit durchgesetzt hat, acht zusätzliche freie Tage zu nehmen. Mit Streiks brachen die Mitglieder den Widerstand der Arbeitgeber. Hofmann sprach von der "Begeisterung, die wir entfacht haben". So war es in der Tat.

Michael Vassiliadis, sein Kollege von der IG Bergbau, Chemie, Energie, gab an, dass er in der Chemieindustrie die Verdoppelung des Urlaubsgelds nicht nur gefordert, sondern auch durchgesetzt habe. Er sagte: "Unser Organisationsgrad in den Betrieben ist quasi doppelt so hoch wie im Bundesschnitt", nämlich 36 Prozent.

Was Bsirske zur Altenpflege meinte, am Donnerstagabend in einem Pressegespräch in Berlin, war nicht vorwurfsvoll oder zynisch. Es war eine Beschreibung der Realität. Das Problem ist: Pflegende, die nicht dienen und helfen wollten, wären in dem Beruf wohl falsch. Zugleich steht diese Eigenschaft ihnen im Weg, wenn es um die Wahrung ihrer eigenen Interessen geht. Wo eine Gewerkschaft kaum Mitglieder hat, sind auch ihre Chancen gering. Wenn sie mit Streiks nicht einmal drohen kann, kann sie sich die Mühe sparen. Mit Bsirskes Worten: "Die Frage ist immer: Wo sind wir in der Lage, in eine Auseinandersetzung zu gehen?"

Zählt man die Mitglieder der DGB-Gewerkschaften und des Beamtenbundes (DBB) sowie von Einzelorganisationen wie Marburger Bund oder Deutschem Journalisten-Verband (DJV) zusammen, kommt man auf gut sieben Millionen Organisierte. Studierende und Rentner nicht herausgerechnet, wäre das etwa jeder siebte Erwerbstätige. Das deutet darauf hin, dass Gewerkschaften in einigen Betrieben und Branchen mächtig, in anderen jedoch kaum von Belang sind. Die GdP tut sich auch deshalb relativ leicht bei der Mitgliederwerbung, weil Polizisten zwar ebenfalls Diener und Helfer sein mögen, doch darüber hinaus Mannschaftsgeist haben - und zudem in großen, maskulin geprägten Einheiten arbeiten; was schon im 19. Jahrhundert das Organisieren begünstigt hat. In der Altenpflege wiederum gibt es nur in fünf Prozent der privaten Heime überhaupt Tarifverträge.

Aus diesen Gründen läuft derzeit eine Debatte, ob die Politik den Gewerkschaften helfen soll und kann. Staatsaufträge nur an Firmen vergeben, die ihre Mitarbeiter nach Tarif bezahlen; Steuerrabatte für diese Firmen sowie für Gewerkschaftsmitglieder; mehr Tarifverträge für allgemein verbindlich erklären - das sind die Forderungen. Die Arbeitgeber lehnen dies alles ab. Ihre Begründung: Es sei nicht nur jedem erlaubt, einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband beizutreten, sondern auch: sich fernzuhalten. Das sei es, was "Tarifautonomie" bedeute. Der Staat dürfe keine Seite fördern. Und vor allem die Metall-Arbeitgeber, die oft die Unerbittlichkeit der IG Metall zu spüren bekommen, argumentieren, es hinge auch vom Verhalten einer Gewerkschaft ab, ob ein Arbeitgeberverband Tarifrunden überhaupt noch attraktiv finde.

Streiks an Flughäfen könnte es übrigens demnächst erneut geben - zwar nicht seitens der Kontrolleure; deren Tarifvertrag läuft nun drei Jahre. Aber nun beginnen Verhandlungen zu den Bodenverkehrsdiensten, also den Arbeitnehmern, die Flugzeuge beladen oder betanken. Auf die Frage, wie hoch deren Organisationsgrad sei, nickte Frank Bsirske fröhlich mit dem Kopf.

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