Residenztheater:Dunkle Geheimnisse

Residenztheater: Charlotte Grau (Barbara Melzl, links) hat sich in "Stille Nachbarn" ewig schlecht gelaunt in ihr Inneres verkrochen, Tochter Isabell (Katrin Röver) versucht, alle Nöte des Lebens mit einem Lächeln zu überspielen.

Charlotte Grau (Barbara Melzl, links) hat sich in "Stille Nachbarn" ewig schlecht gelaunt in ihr Inneres verkrochen, Tochter Isabell (Katrin Röver) versucht, alle Nöte des Lebens mit einem Lächeln zu überspielen.

(Foto: Thomas Aurin)

Beim Marstallplan wird aus zwei Rätselstücken aufregendes Theater

Von Egbert Tholl

Der Marstalljahresplan des Residenztheaters geht weiter. Aktuell mit einer Uraufführung - Azar Mortazavis "Stille Nachbarn" - und einem knapp 30 Jahre alten Stück, "Begehren" von Josep M. Benet i Jornet. Eine interessante Kombination, so an zwei Tagen hintereinander. Beide Texte pflegen ein schwer zu fassendes Unwohlsein. In den Alltag der Figuren schleicht etwas hinein, über das man sich sehr viele Gedanken machen kann. Weil beide Stücke letztlich die Erklärung, was da herumschleicht, bewusst verweigern. Man könnte auch sagen, Mortazavi raunt in ihrem Text über viele Leerstellen hinweg, während Jornet einen psychotischen und schon deshalb rätselhaften Thriller entwickelt. Entscheidender ist aber, dass beide Texte offenbar gutes Theaterfutter sind. Das wundert einen bei der Lektüre, aber was Mirjam Loibl und Aureliusz Śmigiel in den Marstall hineinzaubern und wie in ihren Inszenierungen die Schauspielerinnen und Schauspieler faszinieren können, das macht schon viel Freude.

"Stille Nachbarn": Charlotte Grau verkriecht sich in ihr Inneres, das aus Angst und der Weltabgewandtheit ihrer Demenz besteht. Barbara Melzl, endlich mal wieder auf einer Resi-Bühne zu sehen, spielt sie als herrlich garstigen Drachen mit der größten Würde und grandios schlechter Laune. Und Verzweiflung. Frau Graus Tochter Isabell geht es auch nicht viel besser. Kathrin Röver spielt leuchtend präzis eine Frau, die alle Nöte mit einem Lächeln versucht zu übertünchen, die am liebsten ihre Umgebung mit Kuchen vollstopft, einen ständig schlafenden Mann mit Migräne behauptet, der nie auftaucht und vermutlich nicht vorhanden ist, die sich aus einer beklemmenden Einsamkeit heraus den Nachbarn aufdrängt. Die sind Esther Schwartz und Bijan Zamani, ein Paar aus einer wohl ferneren Gegend. Er streunt ruhelos durch die Nacht, sie will ihm Wärme und Nähe geben. Irgendetwas passiert, er wird verhaftet, bleibt aber da. Isabell okkupiert die fremde Küche und Angst fügt vier Menschen, die nur sehr bedingt etwas miteinander zu tun haben wollen, fest zusammen.

Martin Eidenberger hat dafür eine tolle Minigolflandschaft (erster Teil) und das offene Gefängnis einer durchlässigen Pyramide (zweiter Teil) gebaut, Śmigiel lässt die Darstellenden akkurat gebaute Rätsel spielen. Ein Chor dröhnt aus dem Off, er klingt, als sängen die Don Kosaken die Matthäus-Passion. Video taucht die Szenerie in flackerndes Schwarz-Weiß und aus all dem entsteht eines: Man setzt im Kopf die Geschichten neu zusammen, denkt sie weiter. Als Text für sich ist "Stille Nachbarn" eher eine Enttäuschung, als Evokation von Gedanken funktioniert aber der Theaterabend prima.

"Begehren": Schade, dass der Text nicht mehr hergibt. Mirjam Loibl zaubert mit dem, was vorhanden ist, einen siebzigminütigen Thriller in bester David-Lynch-Manier, der gerne Kinoüberlänge haben dürfte. Die "Vielleichts", die Mortazavis Text durchziehen, tauchen hier ähnlich auf, werden aber Suspense. Schon die erste Szene ist eine Meisterleistung von Loibl, Hanna Scheibe und Arthur Klemt. Die beiden richten als Paar ihr Häuschen im Wald, fernab der Welt ein. Sie spielen mit der Wahrheit allergrößter Natürlichkeit zwei Menschen, die sich lieben, die völlig selbstverständlich und mit einer - später sehr fragil werdenden - Zärtlichkeit miteinander umgehen. Ein Telefon läutet, jemand will die Frau sprechen, keiner ist dran. Sie fährt zum Supermarkt, eine halbe Stunde entfernt. Auf der Straße trifft sie zum dritten Mal einen Mann, der eine Autopanne hat. Der sagt, er war nie hier. Philip Dechamps trägt einen abenteuerlichen Anzug, vielleicht ein Signal zu viel, dass hier etwas seltsam ist.

Die Begegnung zwischen Scheibe und Dechamps wird zu einem Tanz zweier Satteliten, die sich umkreisen. Hartes Licht wirft scharfe Diagonalen in den Raum, Musik schafft Aufregung. Geklärt wird nichts. Die beiden suchen einen Imbiss auf, die Rückseite des Häuschens im Wald. Es ist das Reich von Barbara Romaner, noch eine faszinierende Rätselgestalt, dunkle Verheißung von etwas Ungreifbarem.

Begriffe man die Frau, die Hanna Scheibe so schillernd genau spielt, allein als an einer Psychose leidend, man beschnitte sich um viele Nuancen dieses feinskizierten Kopfkinos. Besser sollte man, wie schon am Abend zuvor, mit den Gedanken spazierengehen zwischen den Möglichkeiten all dessen, was hier erzählt und vor allem nicht erzählt wird.

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