Klassische Musik:Die Kunst des Gesprächs

Klassische Musik: Andris Nelsons in Aktion.

Andris Nelsons in Aktion.

(Foto: Jan Woitas/AFP)

Das Gewandhausorchester Leipzig und Andris Nelsons begeistern in München ein Publikum mit Unterhaltung, die reinste Kultur ist.

Von Harald Eggebrecht

Anfangszauber: Wie Andris Nelsons und das unverwechselbare Leipziger Gewandhausorchester in der Münchner Gasteig-Philharmonie Robert Schumanns zweite Symphonie in C-Dur begannen, zart, gespannt, bannend in der Durchsichtigkeit des akkordischen Satzes, warm im Klang und wahrhaft symphonisch aufeinander hörend und achtend. So entstand dieses Anfangs-Sostenuto-Assai langsam, aber unaufhaltsam und eröffnete eine weite Perspektive auf den ganzen Kopfsatz. Auch der vertrackte Übergang in den rascheren Allegro-Teil geriet logisch und nicht ruckartig. Trotz schnellerer Gangart und dichtem Satzgeschehen verloren die Leipziger Musiker nicht ihre beeindruckende Kunst des bis in die Feinheiten erhellenden musikalischen Binnengesprächs. Und Nelsons behielt imponierend die Übersicht.

Das Wunder aus dem Leisen und Langsamen organisch einen weit dimensionierten Raum zu öffnen, gelang Nelsons und den Seinen auch am zweiten Abend dieser erlebnisreichen zweitägigen Reise in die Welten von Robert Schumann und Felix Mendelssohn Bartholdy. Mendelssohns Konzertouvertüre "Meeresstille und glückliche Fahrt" verlangt im Adagio-Teil eine fast statische, höchst langsame Piano-Pianissimo-Bewegung in reinen Streicherakkorden, die jenen Eindruck hervorrufen soll, den Goethes Gedicht beschreibt: "Tiefe Stille herrscht im Wasser,/ Ohne Regung ruht das Meer." Sogar "Todesstille" bemerkt der Dichter.

Nelsons beschwor eine solche Konzentration der Stille in seinen Musikern, dass es den Atem nahm. Allerdings löste "Äolus (Nelsons) das ängstliche Band" danach um eine Spur zu erleichtert, was die "glückliche Fahrt" dann unruhiger und zerstreuter machte, als es der wahrlich magische Beginn versprochen hatte.

Wenn das Gewandhausorchester Musik von Schumann und Mendelssohn aufführt, dann spricht es gleichsam in seiner Muttersprache. Mendelssohn war der berühmteste Gewandhauskapellmeister des 19. Jahrhunderts und dirigierte auch etliche Werke seines Freundes Schumann im Gewandhaus, darunter die 2. Symphonie. Seit jenen Tagen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben die Leipziger die Diktion und Artikulation dieser Komponisten in sich aufgenommen und an nächste Musikergenerationen weitergegeben. So ist eine Vertrautheit im Umgang mit diesen Werken entstanden, die jedes falsche Auftrumpfen, lärmenden Pomp oder vermeintlich virtuose Oberflächenpolitur meidet.

Schumann betonte, dass er aus einem "zutiefst dichterischen Bewusstsein" heraus komponierte. Also gilt es bei ihm, dieses Moment des Erzählerischen, des Beschreibens, des inneren Sprechens und des Klangdichtens nicht an Lokaleffekte oder gar Gewalttätigkeiten zu verraten.

Goethe über das Streichquartett: "Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten . . ."

Nelsons verließ sich daher auf die Fähigkeiten seiner Musiker zur Kultur der geistvollen symphonischen Unterhaltung. Dieses kommunikative Beziehungsnetz innerhalb des musikalischen Geschehens erinnerte manchmal an Goethes Bemerkung über das Wesen des Streichquartetts: "Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen."

Der Abend mit Mendelssohns vor allem in den ersten drei Sätzen wunderbar beredt ausformulierter "italienischer" Symphonie, seiner vitalen und genauso von den Leipzigern getroffenen "Ruy Blas"-Ouvertüre und eben Schumanns "Zweiter" gelang denkwürdig, weil Nelsons auch in den schnellen Sätzen nichts fahrlässig beschleunigte und so hoch konzentriert blieb wie auch das Orchester. Der zweite Abend - neben Mendelssohns "Meeresstille" noch Schumanns Klavierkonzert und seine 3. Symphonie, die "Rheinische" - geriet nicht ganz so beispielhaft.

Das lag nicht an der angenehm präsenten Solistin Hélène Grimaud, die sich sehr gelenkig in das Gewebe des Orchesters einfügte, wobei sie virtuoses Zupacken keineswegs scheute. Doch bei Schumanns "Rheinischer" schienen die Kräfte von Orchester und Dirigent eine Spur nachzulassen. Die Symphonie wird abgesehen vom Finale von Satz zu Satz immer ruhiger, bedächtiger, dabei kompositorisch ungemein verdichtet. Schumann hatte so etwas wie eine groß angelegte Rheinwanderung im Sinn: Vom freudig-festlichen Aufbruch über sanft schwingende Gemächlichkeit hin zu landschaftlicher Betrachtung mit Hörnerschall. Im 4. Satz, "feierlich", wird in den sonoren Klängen der tiefen Instrumente gleichsam der Kölner Dom beschworen, bevor es zum Schluss in heller Wanderfreude geradezu sieghaft endet. Das erfordert Gestaltungskraft und Tempobewusstsein bis zum letzten Ton, das Blech darf nicht knallen, das Dickicht der Mittelstimmen nie an Durchhörbarkeit verlieren, die Gefahr eines Al-Fresco-Musizierens kann bei schwindender Aufmerksamkeit aller drohen.

Doch trotz kleiner Unsicherheiten (Hörner!) und leichten Ermüdungserscheinungen bleiben die Tage mit dem so kultivierten, von offensiven Kraftgesten freien Gewandhausorchester unter Andris Nelsons begeisternd lehrreich, weil klar wurde, dass Schumann und Mendelssohn nicht emotionales Toben, aufwühlende Ekstasen und furchtbare Abstürze in orchestraler Wucht suchen, sondern ihre Kunst in letzter Konsequenz klassisch orientierte Romantik ist, die den Turbulenzen und Explosionen der folgenden Musikepochen noch fern ist. Was nicht heißt, es ginge hier gemütvoll, wohlgesittet, also unerheblich oder gar beiläufig zu. Vielmehr haben die Leipziger nahezu vollendet gezeigt, welche hinreißende Erzähl- und Gesprächskultur in der Musik dieser beiden Komponisten waltet.

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