Frankreich:Die Opfer von LBD 40

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Anfangs sahen viele Gelbwesten in den Polizisten potenzielle Verbündete – auch sie seien schließlich mies bezahlt. Doch dann eskalierte die Gewalt. (Foto: Kamil Zihnioglu/AP)

Die Kritik am oft brachialen Vorgehen der Polizei gegen die Gelbwesten wächst. Hartgummigeschosse verletzten Demonstranten schwer.

Von Nadia Pantel, Paris

Als sich die sogenannten Gelbwesten am 24. November 2018 zum ersten Mal auf den Champs-Élysées in Paris versammelten, stellten sich immer wieder kleine Grüppchen mit ihren Warnwesten vor die anwesenden Polizisten und skandierten: "CRS avec nous!" Eine kurze Parole, die die Überzeugung vieler Demonstranten ausdrückte. Die CRS, die von Kopf bis Fuß gepanzerten Demo-Truppen der Polizei, seien doch letztlich in derselben Position wie die Gilets jaunes: Frustriert von niedrigem Lohn und hohen Steuern, in ihren Sorgen und Nöten von Regierung und Präsident nicht ernst genommen. Viele Franzosen, die durch die Bewegung der Gelbwesten politisiert wurden, haben zuvor noch nie an Protesten teilgenommen. Frankreichs Linken gelten die CRS tendenziell als natürliche Feinde. Viele Gilets jaunes vermuteten in ihnen zunächst potenzielle Verbündete.

Dieser Eindruck hat sich zehn Wochen später grundlegend geändert. Auf ihren Demonstrationen, die seit November ohne Unterbrechung jeden Samstag in ganz Frankreich stattfinden, tragen die Gelbwesten inzwischen Plakate mit sich, die Fotos von blutenden Verletzten zeigen. Es sind Bilder von Demonstranten, die von Hartgummigeschossen getroffen wurden.

Über die Zahl der Opfer besteht keine Einigkeit. Das französische Innenministerium spricht von 1000 verletzten Demonstranten, davon zehn, die im Gesicht verletzt wurden, vier am Auge. Der Journalist David Dufresne hingegen kommt auf 1900 verletzte Demonstranten, davon 159 mit Wunden im Gesicht und 18, die am Auge getroffen wurden. Dufresne sammelt auf seinem Twitter-Konto Belege für Gewalt durch Polizisten und wird inzwischen von allen französischen Medien zitiert. Keine der von ihm gemeldeten Verletzungen wurde bislang widerlegt.

Einig sind sich Dufresne und das Innenministerium bei der Zahl der verletzten Polizisten und den Anzeigen, die bei der Dienstaufsicht IGPN eingegangen sind, einer Art Polizei innerhalb der Polizei. 1200 Beamte wurden bei Demonstrationen der Gelbwesten Opfer von Gewalt. Und 101 Fälle von Polizeigewalt wurden bei der IGPN gemeldet.

Schüsse auf Kopfhöhe sind verboten - doch nicht jeder Polizist hält sich offenbar daran

Grund für die besonders gravierenden Verletzungen ist in den meisten Fällen die Waffe LBD 40. Es handelt sich dabei um eine sogenannte nicht-tödliche Waffe mit einem Zielfernrohr, die mit Hartgummikugeln schießt. Deutsche Polizisten verwenden diese Waffe ebenso wenig wie Tränengashandgranaten. In Frankreich sind beide Waffen zugelassen, die Polizei darf sie zur Selbstverteidigung einsetzen. Schüsse auf Kopfhöhe sind verboten. Doch die Dokumentation Dufresnes umfasst zahlreiche Verletzungen an Augen, Kiefer und Wangen. Der Journalist will so belegen, dass Polizisten die Vorschriften häufig umgehen und durchaus auf den Kopf von Demonstrierenden zielen.

In den vergangenen Wochen sorgten verschiedene Fälle für Aufsehen, in denen Menschen während der Gelbwesten-Proteste schwer verletzt wurden. Ein Video vom 12. Januar von einer Demonstration in Bordeaux zeigt, wie Polizisten in Zivil auf einen Mann in Warnweste zielen, der gerade in eine Seitenstraße läuft, um sich zurückzuziehen. Nach dem Schuss bleibt er leblos am Boden liegen. Es handelt sich um den 47-jährigen Olivier Béziade, Familienvater und freiwilliger Feuerwehrmann, der gemeinsam mit seiner Frau zum zweiten Mal an einer Gelbwesten-Demo teilnahm. Béziade wurde am Hinterkopf getroffen und zunächst in ein künstliches Koma versetzt, inzwischen hat sich sein Gesundheitszustand verbessert. An demselben Samstag, an dem Béziade in Bordeaux verletzt wurde, traf in Straßburg ein Hartgummigeschoss den 15-jährigen Lilian. Der Jugendliche war in die Stadt gefahren, um sich eine Jacke zu kaufen. Er näherte sich der Demonstration der Gelbwesten aus Neugier und geriet in die Schusslinie. Fotos zeigen ihn mit einem tiefen Loch in der Wange, der Kiefer des Jungen ist zersplittert.

Das Innenministerium reagierte auf die vielen Opfer des LBD 40. Polizisten, die die Feuerwaffe einsetzen, müssen inzwischen eine Kamera am Körper tragen. Doch diese Maßnahme hat bislang nicht zu einer Entschärfung der Situation geführt. Am vergangenen Samstag in Paris wurde nun ein prominenter Vertreter der Gelbwesten, Jérôme Rodrigues, während einer Demonstration am Auge verletzt. Rodrigues gibt an, von einem Hartgummigeschoss getroffen worden zu sein. Innenminister Christophe Castaner sprach am Dienstag in einem Interview mit dem Fernsehsender BFM über Rodrigues' Verletzung und die mögliche Verantwortung der Polizei: "Wenn es einen Fehler gab, wird es Sanktionen geben."

Castaner betonte zugleich, dass die Demonstrationen der Gelbwesten von einem hohen Maß an Gewalt geprägt seien. Polizisten seien mit Boulekugeln, Pflastersteinen und Molotowcocktails beworfen worden. Prominente Figuren der Gelbwesten würden zur bewaffneten Revolte aufrufen. Nach Rodrigues' Verletzung hatte Eric Drouet auf Facebook einen "beispiellosen Aufstand" gefordert. Zehntausende Gelbwesten folgen Drouet in den sozialen Netzwerken. Für kommenden Samstag planen die Gelbwesten wieder Demonstrationen in ganz Frankreich.

© SZ vom 30.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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