Pipers Welt:Autobahn for All

Pipers Welt: Nikolaus Piper fürchtet sich vor seiner nächsten Gasrechnung. Illustration: Bernd Schifferdecker

Nikolaus Piper fürchtet sich vor seiner nächsten Gasrechnung. Illustration: Bernd Schifferdecker

Deutschland streitet wieder einmal über eine Geschwindigkeits­begrenzung. Eine gute Gelegenheit, sich mit der Kulturgeschichte des Rasens zu befassen.

Von Nikolaus Piper

Die neue Debatte um ein Tempolimit auf Autobahnen ist ein guter Anlass, mal wieder an Georg Leber zu erinnern. Leber war etwas, was es heute nicht mehr gibt: ein konservativer Sozialdemokrat und Gewerkschafter. Zeitweise leitete er die traditionsreiche IG Bau-Steine-Erden. Im ersten Kabinett von Willy Brandt war der "Schorsch", wie ihn die meisten Genossen nannten, Bundesverkehrsminister. Schorsch entwickelte in der Funktion Pläne für einen gigantischen Ausbau des Straßennetzes. Kein Deutscher sollte mehr als 20 Kilometer bis zur nächsten Autobahn fahren müssen. Außerdem setzte Leber die Gurtpflicht durch, die Alkoholgrenze von 0,8 Promille - und Tempo 100 als gesetzliche Höchstgeschwindigkeit auf Landes- und Bundesstraßen.

Das Tempolimit war am schwersten. Ehe es am 1. Oktober 1972 Gesetz werden konnte, musste Leber erbitterten Widerstand überwinden, beim ADAC, in der eigenen Partei und wahrscheinlich auch in seinem Autofahrer-Herzen. Dabei gab es eigentlich ein überaus starkes Argument für eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf den Straßen der Bundesrepublik: 19 000 Verkehrstote. Dem hielten aufgebrachte Autofahrer und ihre Lobby einen Wust von Argumenten entgegen, wobei viele verblüffend den Einwänden von Andreas Scheuer und anderen Zeitgenossen gegen das Tempolimit auf Autobahnen erinnern: Es bringt nichts, es ist dumm, es schadet mehr als es nutzt und man soll die Autofahrer nicht gängeln. Nur vom Klimawandel wusste man damals noch nichts.

Ein besonders lustiges Beispiel für die Kampagnen gegen das Tempolimit brachte die Sendung "Das Rasthaus" in der ARD: Autofahrer, die Tempo 100 einhalten, müssten häufiger kuppeln als solche, die schneller fahren. Ein Test habe das ergeben, hieß es. Der Preis eines Tempolimits wären danach abgenutzte Kupplungen und höhere Reparaturkosten.

Die Jugendorganisation der Polizeigewerkschaft im Deutschen Beamtenbund ließ verlautbaren, die Geschwindigkeitsgrenze von 100 Stundenkilometer sei "praktisch unmöglich zu überwachen". Der Verkehrsausschuss des Bundestages warnte außerdem davor, dass die Autobahnen überlastet werden könnten wegen all der Autofahrer, die nun die langsamen Bundesstraßen meiden und auf die schnellen Pisten ausweichen würden. Die Süddeutsche Zeitung schlug in einem Kommentar vor, das Tempo nur an gefährlichen Stellen zu begrenzen. Um die aufgebrachten Autofahrer zu besänftigen, wurde Tempo 100 zunächst nur als "wissenschaftlich begleiteter" Großversuch eingeführt.

Heute, mehr als 46 Jahre später, kann man beruhigt feststellen: Die meisten Kupplungen in Deutschland haben die Belastungen des Tempolimits gut überstanden. Und die Polizei hat, wie die meisten Autofahrer aus eigener Erfahrung wissen, Mittel und Wege gefunden, um die Geschwindigkeit auch zu kontrollieren, jedenfalls im Großraum München. Die Zahl der Verkehrstoten ist auf 3285 gesunken (zugegeben: nicht nur wegen des Tempolimits). Nur die Argumente dagegen sind die gleichen geblieben, jetzt, wo es um die Autobahnen selbst geht. Mit Ausnahme des Kupplungs-Themas vielleicht.

Auch als ein paar Jahrzehnte vorher, am 1. September 1957, die Bundesregierung Tempo 50 in Ortschaften eingeführt hatte, waren die Proteste übrigens groß gewesen. Statt die Bürger zu bevormunden, sollte die Regierung lieber bessere Straßen bauen, hieß es. Dann würde es schon weniger Unfälle geben. Zum Hintergrund: Von 1950 bis 1953 war im Zuge der beginnenden Massenmotorisierung die Zahl der Verkehrstoten von 7000 auf 12 000 gestiegen.

"In Deutschland konkurriert Porsche nicht mit Autos. Sondern mit Flugzeugen."

Je mehr die Geschwindigkeit auf normalen Straßen begrenzt wurde, desto wichtiger wurde im öffentlichen Bewusstsein der Kult um die Autobahn. Als die Bundesregierung 1974, mitten in der Ölkrise, um Benzin zu sparen, versuchsweise Tempo 100 auch auf vierspurigen Straßen einführte, prägte der ADAC den Spruch "Freie Fahrt für freie Bürger". Er ist längst in den Volksschatz deutscher Spruchweisheiten eingegangen. Heute gibt es außer der Bundesrepublik kein anderes Land mit nennenswertem Straßennetz, das kein Tempolimit kennen würde. Die Autobahn ist der "USP", wie die Experten im Marketing sagen, das Alleinstellungsmerkmal Deutschlands auf den Absatzmärkten seiner Autoindustrie geworden. In Amerika zum Beispiel. Den Schauspieler Tom Hanks erinnerte bei einem Deutschland-Besuch die Autobahn zwischen Dresden und Berlin an die Startbahn eines Flughafens und er stellte fest: "Wie schnell du auch immer fährst in Deutschland, es gibt jemanden, der noch schneller fährt." Hanks Autobahn-Auftritt in der Late Show des Moderators David Letterman gibt es auf YouTube, und er ist immer noch sehenswert. Manche Amerikaner glauben, Deutschland habe eine einzige Straße mit Namen "Autobahn", auf der man nach Herzenslust rasen kann. Einen großen Spielplatz für Männer also und solche, die es werden wollen.

Man darf sich aber keine Illusionen machen: Wegen der Faszination, die die deutsche Raserei auf Ausländer ausübt, ist die Autobahn für die Autoindustrie ein starkes Verkaufsargument. Der Ehrenpreis gebührt hier den Marketingleuten von Porsche. Diese bewarben in den 1980er-Jahren den 928er mit dem Slogan: "In Deutschland konkurriert Porsche nicht mit Autos. Sondern mit Flugzeugen." VW-Händler in Amerika treten heute mit dem Claim auf: "Autobahn for All". Und im texanischen Fort Worth gibt es einen großen Händler mit Namen "Autobahn Motorcar Group".

Wäre man Zyniker, würde man sagen: Die deutschen Hersteller haben in Amerika so viel Ärger, da sollte man ihnen nicht auch noch das Verkaufsargument Autobahn wegnehmen. Aber man ist ja nicht Zyniker.

An dieser Stelle schreiben jeden Freitag Franziska Augstein und Nikolaus Piper im Wechsel.

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