Rüstungskontrolle:Höchste Zeit für Realismus

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Vor allem in Deutschland, wie hier zu sehen bei einer Protestkundgebung in Berlin, wachsen die Sorgen vor einer neuen Aufrüstung, nachdem die USA und Russland den INF-Vertrag gekündigt haben. (Foto: dpa)

Technologischer Fortschritt und politische Untätigkeit haben den INF-Vertrag obsolet gemacht. Doch sein Ende könnte im Idealfall eine neue Phase der Rüstungskontrolle einleiten, wenn die Europäer sich auf ihre Stärke besinnen.

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Nun hat auch Wladimir Putin den INF-Vertrag außer Kraft gesetzt, was bedeutet, dass Russland seine illegal gefertigten Mittelstreckenraketen offiziell in sein strategisches Kalkül aufnehmen kann. Übersetzt in die Sprache des Militärs: Nuklearraketen mittlerer Reichweite müssen bei der Abschreckung mitgedacht werden. Übersetzung für alle: Sollte Russland etwa das Baltikum angreifen, wären Mittelstrecken-Nukes ein wirkungsvolles Signal an den Rest Europas, nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Und die USA müssten sich überlegen, ob sie ein paar kleinen europäischen Ländern um den Preis eines umfassenden Nuklearkriegs helfen wollen.

Alles viel zu dramatisch? Ja und nein. Überzogen ist das Szenario, weil der INF-Vertrag allemal aus der Zeit gefallen war. Um das Baltikum einzunehmen, braucht es diese Raketen nicht. Längst arbeiten die Großmächte an hyperschnellen, nicht abfangbaren (Atom-)Waffen. Längst geht es im Mittelstrecken-Duell nicht nur um die USA und Russland, sondern vor allem um China, Indien, Pakistan und, nicht zu vergessen, Nordkorea. Längst weiß jeder Stratege, dass Krieg heute anders buchstabiert wird: Eine Gesellschaft beginnt zu wanken, wenn ihr Strom und Wasser abgestellt werden und ein Nuklearmeiler havariert. Wer dann noch nicht mürbe ist, der möge das Chaos in der Notaufnahme betrachten, soweit er den Weg durch die dunklen Straßen findet.

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Umgekehrt gilt aber auch dies: Die Botschaft der Kündigung eines der letzten großen Rüstungskontrollverträge ist natürlich und vor allem politisch bedeutsam. Alles, was sich in diesen Zeiten auflöst, schafft Instabilität. Das kaputte transatlantische Bündnis, der Brexit, die amorphe Parteienlandschaft - alles Zeichen großer Unsicherheit. Das macht Demokratien, aber auch Bündnisse wie die EU schwach, weil sie zunächst einmal mit sich selbst klarkommen müssen.

Die Spaltung beginnt bereits bei der Suche nach dem Schuldigen: Ja, Russland hat gegen den INF-Vertrag verstoßen, aber auch die USA haben bei der Stationierung von Abfangsystemen in Mitteleuropa begründete Zweifel an deren defensivem Charakter gesät. Und haben beide Mächte nicht über 20 Jahre schon die gemeinsame Sprache verlernt?

Für den moralischen Fingerzeig sind in diesen Debatten häufig die Deutschen zuständig. Dieser Rolle werden sie auch jetzt gerecht, indem sie einerseits in eine Historienbetrachtung verfallen und an die Nachrüstungsdebatte und den Bonner Hofgarten erinnern, andererseits Aktivismus vorgaukeln und von Pendeldiplomatie träumen. All dies bewegt faktisch nichts und wird höchstens für innenpolitische Zwecke missbraucht.

Zwei Botschaften bleiben für den Augenblick: Die INF-Kündigung ist das logische Produkt von politischer Untätigkeit und technologischem Fortschritt. Sie ist im Idealfall nicht das Ende sondern der Beginn einer neuen Phase der Rüstungskontrolle. Und zweitens: Wer andere zur Rüstungskontrolle zwingen will, der handelt besser aus einer Position der Stärke. Auch das ist eine Lehre aus dem Kalten Krieg. Solange Deutschland und Europa kein Rezept gegen ihre neue Verwundbarkeit finden, bleiben sie exakt dies: verwundbar.

Was würde der Großstratege Putin an Westeuropas Stelle tun? Er würde EU-Soldaten (nicht Nato-Truppen) ins Baltikum verlegen, den Handelsfluss drosseln und Nord Stream 2 stoppen. Und dann reden.

© SZ vom 04.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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