SEM:Stadtrat beschließt überraschend einmütig Wettbewerb für neues Stadtviertel

SEM: Betonwüste oder sinnvolle Stadterweiterung? Nördlich der Galopprennbahn Riem hängt dieses Protestplakat gegen die SEM Nordost.

Betonwüste oder sinnvolle Stadterweiterung? Nördlich der Galopprennbahn Riem hängt dieses Protestplakat gegen die SEM Nordost.

(Foto: Alessandra Schellnegger)
  • Der Planungsausschuss des Stadtrats hat am Mittwoch beschlossen, die Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM) für einen neuen Stadtteil im Münchner Nordosten voranzutreiben.
  • Es bleibt dabei, dass eine Bebauung für bis zu 30 000 Einwohner geprüft wird, zur Aufgabenstellung an die Architekten und Städteplaner gehören nun aber auch Szenarien für 10 000 und 20 000 Menschen.
  • Nach der "Heimatboden"-Initiative von Bauern, die die SEM ablehnen, hatten sich zusätzlich Anwohner vor allem aus Daglfing zu einem "Bündnis Nordost" zusammengeschlossen.

Von Sebastian Krass

Ein Signal der Geschlossenheit nach Wochen des wachsenden Drucks von Lobbygruppen: Der Planungsausschuss des Stadtrats hat am Mittwoch nach einer intensiven, aber sachlichen Debatte beschlossen, die Städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM) für einen neuen Stadtteil im Münchner Nordosten voranzutreiben. Mit breiter Mehrheit verabschiedete er einen Eckdatenbeschluss und beschloss den Start eines städtebaulichen Ideenwettbewerbs; die einzige Gegenstimme kam von Johann Altmann (Bayernpartei). Es bleibt dabei, dass eine Bebauung für bis zu 30 000 Einwohner geprüft wird, zur Aufgabenstellung an die Architekten und Städteplaner gehören nun aber auch Szenarien für 10 000 und 20 000 Menschen.

Entstehen soll das Viertel auf einem Teil eines 600 Hektar großen Gebiets östlich von Daglfing, Englschalking und Johanneskirchen - dort besteht für München eine der letzten Möglichkeiten, einen neuen Stadtteil zu bauen. Mit dem Wettbewerb soll unter Beteiligung der Öffentlichkeit bis Anfang 2020 eine Diskussionsgrundlage dafür entstehen, in welcher Art und welchem Ausmaß das Areal bebaut werden könnte. Mit einem Baubeginn ist nicht vor 2030 zu rechnen. Die Stadtratsdebatte zeigte auch einen Weg auf, wie die Politik eine SEM durchziehen könnte, ohne auf Enteignungen zurückgreifen zu müssen, die rechtlich als letztes Mittel möglich wären: indem Grundstücke, deren Eigentümer nicht verkaufen wollen, aus dem Planungsgebiet herausgenommen, dann aber langfristig nicht mehr zu lukrativem Bauland erklärt werden. Starten wird der Ideenwettbewerb im März mit zwei Veranstaltungen: einer öffentlichen, in der Bürger ihre Anregungen ins "Hausaufgabenheft" der Wettbewerbsteilnehmer einfließen lassen können, wie die Stadt erläutert. Die andere richtet sich an Grundstückseigner.

Das Klima, in dem die Debatte stattfand, hatte sich seit Wochen aufgeheizt. Nach der "Heimatboden"-Initiative von Bauern, die die SEM ablehnen, hatten sich zusätzlich Anwohner vor allem aus Daglfing zu einem "Bündnis Nordost" zusammengeschlossen. Sie laden für den 21. Februar zu einer öffentlichen Diskussion mit den Spitzen der Fraktionen von CSU, SPD und Grünen. Auf Plakaten warnen sie mit den Reizwörtern "Verkehrsinfarkt", "Flächenfraß" und "Umweltzerstörung" vor der SEM. Zuletzt hatte der Bayerische Bauernverband mit einem landesweiten Aufstand gedroht, sollte die derzeit noch in Vorbereitung befindliche SEM Wirklichkeit werden. Er sprach von "Raubrittertum" - obwohl SPD und CSU Enteignungen bereits ausgeschlossen hatten. "Heimatboden" wiederum droht mit Klagen bis hinauf zum Europäischen Gerichtshof.

Die CSU, dem Bauernverband traditionell verbunden und somit unter besonderem Druck, plädierte zu Beginn der Sitzung dafür, die Debatte bis nach der Diskussionsveranstaltung zu vertagen. Dies wurde aber abgelehnt, auch weil schon einmal im Januar auf Wunsch der CSU vertagt worden war. Daraufhin betonte der stellvertretende Planungssprecher Hans Podiuk, worauf es seiner Partei ankomme: Im Wettbewerb sollten "verschiedene Nutzungsdichten für 10 000 und 20 000 Einwohner dargestellt werden", erklärte er zu einem Änderungsantrag der CSU. Außerdem sei es "Voraussetzung für eine Vollbesiedlung, dass die Flughafen-S-Bahn vorher überdeckelt wird". Damit sei nicht vor 2038 oder 2039 zu rechnen. Podiuks Botschaft: "An die Befürworter: Die SEM Nordost wird die Wohnungsnot in München nicht beseitigen. An die Gegner: Auch der Nordosten wird etwas zur Bekämpfung der Wohnungsnot beitragen müssen."

Herbert Danner (Grüne) nannte die SEM ein "von Grunde auf kooperatives Entwicklungsmodell". Aber nach guten Ansätzen der Bürgerbeteiligung habe es zuletzt an Kooperation gefehlt. Er warf Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) vor, für die aufgeheizte Stimmung mit verantwortlich zu sein, "weil die Stadtspitze sich nicht Gesprächen mit den Bürgern stellt" - Reiter lehnt es ab, bei der Diskussionsveranstaltung aufzutreten. Inhaltlich warb Danner dafür, die Bebauung auf etwa 100 Hektar zu beschränken. Auch so könne man 25 000 bis 30 000 Menschen unterbringen. Als Vergleich nannte er die Messestadt Riem: "Da werden am Ende 18 000 Menschen auf 80 Hektar wohnen. Und heute sagen viele: Das hätte man auch enger bebauen können."

Es solle ein "Modellquartier für eine nachhaltige, zukunftsfähige Stadt werden"

Aber was tun, wenn ein Grundstückseigentümer partout nicht verkaufen will - oder zumindest nicht zu dem Preis, den die Stadt zahlen will? Schließlich sind die Preise, vereinfacht gesagt, seit Einleitung der SEM im Jahr 2011 eingefroren. Dazu machte Brigitte Wolf (Linke) einen Vorschlag: "Wenn einer nicht mitmachen will, wird sein Grundstück aus der Planung herausgenommen - und dabei bleibt es." Er könne seine Fläche nicht ein paar Jahre später doch als Bauland verkaufen, "um dann ein superreicher ehemaliger Landwirt zu werden". Damit fand sie die Zustimmung der SPD-Planungssprecherin Heide Rieke.

Gegen Ende meldete sich auch OB Reiter zu Wort. Kritik an seiner Absage wies er zurück: "Ich stelle mich gern jeder Diskussion, die Sinn ergibt und bei der der OB erforderlich ist." Derzeit gehe es aber noch längst nicht um abschließende Entscheidungen. "Wir gehen in einem Prozess, der bisher eher gemächlich vorangegangen ist, jetzt einen Schritt weiter." Und wenn "im Juli erste Modelle vorliegen, gibt es wieder eine Veranstaltung, und dann gehe ich hin, und ich gehe auch zwei- oder dreimal hin". Jetzt im Februar seien immerhin "drei Fraktionsvorsitzende vertreten, die drei Viertel des Stadtrats vertreten". Außerdem skizzierte Reiter seine Vision des neuen Stadtteils: Es solle ein "Modellquartier für eine nachhaltige, zukunftsfähige Stadt werden. Wir können diesmal alles richtig machen." Bevor man über die Bevölkerungszahl entscheide, müsse zunächst klar sein, wie der Verkehr, insbesondere die Bahnanbindung, geregelt wird.

Vor der Abstimmung gab SPD-Stadträtin Rieke eine Linie für eine ungewöhnlich parteiübergreifende Einmütigkeit vor: Sie bat die CSU, in ihrem Änderungsantrag auch ein Szenario für 30 000 Einwohner festzuschreiben. Podiuk nickte mit dem Kopf, der gesamte Ausschuss außer Altmann nahm den CSU-Antrag an. Und die schwarz-rote Rathauskoalition stimmte selbst einem Änderungsantrag der Grünen zu, wonach zunächst schützenswerte Grünflächen identifiziert werden sollen und die Verlängerung der U 4 bis zur Messestadt West "mit Nachdruck" betrieben werden soll. Bei der Forderung der Grünen, das neue Viertel autofrei zu halten, ging allerdings die CSU nicht mit, die SPD hingegen schon.

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