Europa:"Wir müssen gewiefter werden"

Mark Rutte

Mark Rutte: Die EU braucht einen Realitätscheck

(Foto: Bloomberg; Bearbeitung: SZ.de)

Der niederländische Premier Mark Rutte hält vor Beginn der Münchner Sicherheitskonferenz ein leidenschaftliches Plädoyer für Europa, das weniger verschämt mit seiner Macht umgehen sollte.

Interview von Matthias Kolb

Das Wort des Niederländers Mark Rutte hat Gewicht in Brüssel: Nur Bundeskanzlerin Angela Merkel führt länger eine Regierung als der Liberalkonservative. Der 52-Jährige befürchtet, dass es die EU durch das Brexit-Chaos verpasst, sich für den globalen Wettbewerb zu rüsten und weltweit an Einfluss verlieren könnte. Sein Plädoyer für mehr Realpolitik präsentierte er am Mittwoch an der Universität Zürich. Zuvor empfing Rutte die SZ in seinem Arbeitszimmer in Den Haag.

Interview am Morgen

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SZ: Herr Ministerpräsident, wie soll sich die Europäische Union künftig auf globaler Bühne präsentieren?

Mark Rutte: Ich denke, dass die EU einen Realitätscheck braucht und anerkennen muss, dass Macht kein schmutziges Wort ist. Es ist enorm wichtig, dass die EU-Mitglieder zusammenhalten und die regelbasierte Weltordnung und Rechtsstaatlichkeit verteidigen, aber wir müssen gewiefter werden. Es braucht weniger Naivität und mehr Realismus, wenn Europa auf der Weltbühne relevant bleiben will. Anstatt dauernd über US-Präsident Donald Trump zu schimpfen, sollten wir mit ihm ins Geschäft kommen. Wir sind auch nach dem Brexit der größte Markt der Welt und sollten keine Angst haben, den Zugang zu diesem Markt mit immer noch 440 Millionen Konsumenten so einzusetzen, um unsere Ziele zu erreichen.

Wie stellen Sie sich das vor?

Die anderen Akteure wie China, Russland oder die USA vertreten stets ihre jeweiligen Interessen, hier muss Europa besser werden. Bisher haben wir an die "Macht der Prinzipien" geglaubt, künftig sollte es unser Leitspruch sein: "Prinzipien und Macht". Im Handel ist die EU führend, wir treten einig nach außen auf unter Führung der EU-Kommission, und die Abkommen mit Kanada und Japan zeigen unsere Attraktivität. Aber soft power muss mit geopolitischem Realismus kombiniert werden. Ein gutes Beispiel ist der Deal zwischen der EU und der Türkei vom Frühjahr 2016. Weil Ankara Flüchtlinge zurücknahm, brach das Geschäftsmodell der Schmuggler zusammen. Die Türkei bekam Geld für die Versorgung der Flüchtlinge, aber für sie war attraktiv, dass die EU bereit war, schneller über die Liberalisierung der Visaregeln zu verhandeln. Diesen Ansatz sollten wir mit den afrikanischen Staaten ausprobieren, damit die Schleuser im Mittelmeer arbeitslos werden und weniger Menschen ertrinken. Besserer Marktzugang, mehr Entwicklungshilfe oder Stabilisierungseinsätze mit EU-Militär in der Region - es gibt Instrumente.

Gehören Sanktionen dazu?

Absolut, aber momentan ist dafür Einstimmigkeit nötig. Wir sollten dringend und sehr ernsthaft erwägen, bei diesem Instrument künftig mit einer qualifizierten Mehrheit zu entscheiden, damit nicht ein EU-Mitglied alles blockiert. Gegenüber Russland waren wir geschlossen - sowohl nach der illegalen Annexion der Krim, der Destabilisierung der Ostukraine oder dem Abschuss des MH17-Flugzeugs. In Bezug auf Venezuela kommen wir nicht voran, weil Italien blockiert. Das führt dazu, dass wir als EU weniger Einfluss nehmen können als möglich wäre.

Wenn die EU-Staaten ernst genommen werden wollen, müssen sie dann nicht militärisch stärker werden? Werden die Niederlande das Zwei-Prozent-Ziel einhalten, das Trump so wichtig ist?

Absolut, aber zuerst will ich sagen: Ich bin gegen eine europäische Armee, die Nato ist unsere Sicherheitsgarantie. Dass sich Europa seit 1945 so gut entwickeln konnte, lag doch daran, dass wir uns unter dem Schutzschirm von der Nato und der Pax Americana aufs Geldverdienen konzentrieren konnten. Nun müssen die europäischen Nato-Mitglieder mehr zusammenarbeiten, wir Niederländer bringen sowohl in der Nato als auch in der EU die militärische Mobilität voran. Unser Bekenntnis von 2014 zum Zwei-Prozent-Ziel gilt. Wir sollten den USA aber klarmachen, dass die Nato nicht nur dazu da ist, Europa vor Russland oder anderen Bedrohungen zu schützen - es ist im geopolitischen Interesse Washingtons, wenn dieser Teil der Welt frei, stolz und unabhängig ist. Dieses Argument "Ihr helft uns, weil uns viel verbindet und es in eurem eigenen Nutzen ist", müssen wir selbstbewusster vortragen.

Sie sprachen vorher von Naivität. Gilt dies auch in Europas Umgang mit Peking?

Chinas Wirtschaft wächst weiter enorm, wodurch sich für europäische Firmen enorme Chancen ergeben. Aber es kommt auf die Balance an: Wir dürfen nicht naiv sein, was Chinas Staatsunternehmen oder Pekings Umgang mit geistigem Eigentum angeht. Zum Glück diskutieren wir heute über diese Themen auf eine erwachsenere Art als vor fünf oder zehn Jahren. Auch hier gibt es eine transatlantische Tangente: Ich habe nie verstanden, warum Trump sowohl mit der EU als auch mit China einen Handelsstreit führt. Gemeinsam könnten Amerikaner und Europäer viel mehr erreichen auf globaler Bühne. Mein Appell ist: Lasst uns mit Trump zusammenarbeiten und etwa die Welthandelsorganisation WTO reformieren. In Bezug auf China funktioniert der WTO-Mechanismus zur Behebung von Konflikten nicht, worüber wir Europäer seit Langem klagen.

Glauben Sie, dass das mit Trump funktionieren kann?

Ich habe ihn mehrmals getroffen, und ich glaube, dass er zu einem solchen Dialog bereit sein könnte. Er ist ein Dealmaker. Was auf alle Fälle nicht funktioniert, ist ihn zu belehren und ihm zu sagen, was er tun soll. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker war so erfolgreich, weil er Trump die gemeinsamen Interessen von EU und USA klargemacht hat. Wir Politiker können uns die Tanzpartner nicht aussuchen; Trump ist demokratisch gewählt und damit auf der Tanzfläche, das ist eben so.

Wie soll die EU mit Russland umgehen? Kann man mit Putin noch tanzen?

Ich sehe den Umgang mit Moskau als positives Exempel, hier tritt die EU geschlossen auf - sowohl bei den Sanktionen als auch in der Unterstützung für den Minsk-Prozess in Bezug auf die Ukraine. Wir brauchen die richtige Mischung aus Dialog und Druck gegenüber Moskau. Ich halte es für völlig abwegig, Putins Verhalten mit Trump zu vergleichen: Mit den USA haben wir gemeinsame Werte, und wir sind Verbündete in der Nato.

Am Freitag beginnt die Münchner Sicherheitskonferenz, die eine Umfrage in Auftrag gegeben hat. Demnach vertrauen deutlich mehr Deutsche und Franzosen Putin als Trump, in der Weltpolitik das Richtige zu tun. Beunruhigt Sie so etwas?

Natürlich hat Trump einen anderen Stil, aber die Prioritäten der US-Politik haben sich schon unter Barack Obama geändert, etwa mit dessen Fokussierung nach Asien. Auch zu ihm habe ich gesagt: "Bitte, Barack, lass uns das gemeinsam angehen." Es hilft nicht, wenn wir unseren Bürger ständig sagen, wie schlimm Trump ist oder wo er falsch liegt. Manche seiner Kritikpunkte sind korrekt - etwa bei WTO und Nato.

Gibt es eine Verbindung zwischen Ihrer Intervention und dem Brexit? Die EU wird schwächer sein ohne Großbritannien.

Am meisten geschwächt wird das Vereinigte Königreich, dessen Einfluss in der Welt nimmt ab. Ich habe schon vor zwei Jahren gesagt, dass es eine mittelgroße Wirtschaft irgendwo im Atlantik sein wird, die mit EU und USA nicht mithalten kann. Ich sehe nichts Positives darin, zumal die Briten in der EU so klar für Freihandel geworben haben wie niemand sonst. Die Niederlande müssen vielleicht diese Rolle stärker übernehmen. Aber die EU wird den Brexit überleben. Wir Politiker haben vor allem zwei Aufgaben: Wir müssen dafür sorgen, dass unsere Bürger sicher leben können und es genügend Jobs gibt. Der Binnenmarkt hilft uns hier enorm. Ich sehe den Brexit aber auch in Bezug auf den wachsenden Populismus - es gilt jene zu bekämpfen, die die Menschen aufschrecken und Kompromisse ablehnen. Die Pro-Europäer, also Sozialdemokraten und Grüne über Liberale und Christdemokraten müssen den Wählern erklären, dass wir ihre Anliegen ernst nehmen und sie lösen wollen. Dann werden die Veränderungen der Zukunft ihnen keine Angst machen.

Jugendliche beschäftigt der Klimawandel enorm, weshalb sie bei Demonstrationen mehr Klimaschutz fordern.

Bei der Klimakonferenz in Kattowitz habe ich Europa aufgefordert, bei der Reduzierung des CO₂-Ausstoßes ehrgeiziger zu sein. Wir debattieren hierüber gerade in den Niederlanden und ich denke, dass eine klare Mehrheit im Parlament zustimmen wird, die CO₂-Emissionen bis 2030 um 49 Prozent zu senken. Die EU hat sich bisher 40 Prozent zum Ziel gesetzt, aber wir fordern 55 Prozent für alle. Ich bin überzeugt, dass das möglich ist, ohne dass die Menschen ihre Lebensweise ändern müssen, was Konsum, Kinder oder Urlaub angeht - wir haben elf Jahre Zeit, Pläne zu machen. Das wäre nicht nur gut für das Klima, sondern würde uns Europäern wirtschaftlich nutzen, denn hierin liegen viele Jobs und Innovationen. Zudem würde unsere Abhängigkeit gegenüber Lieferanten aus Russland und dem Nahen Osten sinken, wodurch wir auf globaler Bühne selbstbewusster auftreten könnten.

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